Die Stadt ist mit Klischees und Vorurteilen behaftet, immer noch. Münster, das bedeutet bundesrepublikanischem Verständnis nach: Universität und Katholizismus, Prinzipalmarkt und Erbdrostenhof, Schlaun und die Droste. Viel hat die Westfalenmetropole getan, um dieses geliebt-ungeliebte Image los zu werden. Ein Amt »Münster Marketing« wurde aus der Taufe gehoben, Marktforscher sondierten die traditionsverkrustete Ausgangssituation und gaben Richtungen vor, teure Agenturen feilten am Profil. Inzwischen rauscht ein mächtiger Blätterwald von Flyern, Faltblättern und Infobroschüren. Die Stadt gibt sich in ihren Publikationen jung, dynamisch und weltoffen, international geprägt. Nur, welche mittelgroße Stadt erhebt diesen Anspruch nicht?
Fest steht dagegen eins, und das ist irgendwie auch beruhigend: Es war nicht zuletzt die kontinuierliche Pflege und Förderung zeitgenössischer Kunst, mittels derer Münster weit über den westfälischen Tellerrand hinaus erstmalig als eine progressiv gestimmte Stadt aktueller Positionen und Diskurse wahrgenommen wurde. 1977 setzte die erste Skulpturenausstellung eine segensreiche Entwicklung in Gang, die fortan alle zehn Jahre die internationale Kunstszene in der westfälischen Provinz versammeln sollte. Letztmalig, das war 1997, lief die unter der Ägide von Klaus Bußmann und Kaspar König stehende Exposition sogar – will man den Vertretern der Fachpresse glauben – selbst der zeitgleich stattfindenden documenta in Qualität und Auswahl der Werke den Rang ab. Ein rühriger Kunstverein, ein leider finanziell spärlich ausgestatteter, trotzdem agil wirkender »Förderverein Aktuelle Kunst«, nicht zuletzt eine vitale Galerienszene versuchen seitdem mit Erfolg, den geweckten Interessen der Münsteraner an aktuellen Kunstströmungen mit ihren Ausstellungsprogrammen nachzukommen. Die Kunstakademie, die sich erst seit wenigen Jahren an dem dazu eigens deklarierten »Leonardo-Campus« in neuer Architektur präsentiert, überrascht auf den jährlichen Rundgängen mit der Potenz und Sprengkraft einer vielfältig begabten Studentenschaft. Die Stadt war und ist gut beraten, mit den gewonnenen Pfunden zu wuchern, auf Kontinuität zu setzen und nicht auf das Jahr 2007 zu warten, auf dass wiederum Künstler von Rang an der Aa zum skulpturalen Stelldichein zusammentreffen und den Blick einer kunstinteressierten Weltöffentlichkeit auf die Stadt lenken.
»Speicher II« ist die etwas prosaische Bezeichnung, mit der derzeit ein einzigartiges Münsteraner Projekt umrissen wird, das ein zusätzlicher Garant für ein lebendiges und spannungsreiches Kunstleben sein soll – auch zwischen den Großausstellungen. Wer bei dem Namen lediglich an eine aus Verlegenheit umfunktionierte Mehrzweckhalle denkt, hat weit gefehlt. Der »Speicher II«, ein grundlegend saniertes Industriedenkmal der Jahrhundertwende, wird ab Mitte des Jahres mehr als 30 Künstlern adäquaten Raum zum Werken und Wirken geben; eine Galerie und eine Druckerei nutzen die verbleibende Grundfläche. Höhepunkt und krönender Abschluss wird das AZKM sein, die »Ausstellungshalle Zeitgenössische Kunst Münster«, die im 5. Stock auf 1000 Quadratmetern nonstop ein internationales Ausstellungsprogramm bieten soll. Mittels Public Private Partnership trug man die für den Umbau erforderlichen vier Millionen Euro zusammen. Verleger Wolfgang Hölker, der den benachbarten Speicher bereits Ende der 90er Jahre mit antiken Requisiten zum märchenhaft-verspielten Geschäftsdomizil umdekorierte, teilt sich mit Stadt und Land die Kosten und die verabredete Nutzung.
Wer in das schmucke Gebäude an der Hafenzeile einziehen darf, bestimmt das Kulturamt, das auch das Ausstellungsprogramm in der obersten Etage verantwortet. Mit Gail B. Kirkpatrick ist dabei eine umtriebige Kuratorin am Ruder, die seit bereits zwölf Jahren künstlerische Aufbauarbeit in dem architektonischen Provisorium am Hawerkamp und in der Stadthausgalerie geleistet hat. Ihr zur Seite steht Martin Henatsch, dem ehemals die künstlerische Leitung des Wewerka-Pavillons oblag, einem Außenstandort der Kunstakademie. Viel hat sich das hochmotivierte Team vorgenommen: »Wichtigster Programmbaustein ist die Entwicklung, Realisierung und Präsentation zeitgenössischer Tendenzen bildender Kunst. Internationale Positionen sind dabei ebenso wichtig wie die Suche nach jungen, weniger bekannten Künstlern, die durch ihre Arbeit oft überraschende Beiträge zur Standortbestimmung der Kunst leisten«, lässt sich Kirkpatrick im Gespräch programmatisch vernehmen. Der Ausstellungskalender der nächsten Jahre scheint den Anspruch auf ein weites Spektrum einzulösen: Malerei steht neben Video, Großinstallation neben Fotokunst und Grafik. Die befruchtende Zusammenführung und Synthese von Medien ist gewünscht, Interdisziplinarität gefragt. Kirkpatrick: »Bis heute gilt mein Interesse künstlerischen Positionen, die die scheinbaren Grenzziehungen zwischen Architektur, Design, Werbung und bildender Kunst ignorieren. Künstler machen uns vor, was es bedeutet, grenzüberschreitend zu denken und Widersprüche zu leben.«
Mit der Eröffnungsausstellung setzen Kirkpatrick und Henatsch dann auch gleich ein Fanal: Unter der Vorgabe »Firewall« thematisieren neun Künstler in malerischen, skulpturalen, installativen und medialen Arbeiten eine Demarkationsgrenze, deren gedankliche Überwindung unterschiedlichste gesellschaftliche Assoziationen frei setzt. »Firewall«, Brandmauer, meint die Sicherheitsschwelle zwischen Computer-Netzwerken, eine digitale Tresortür, die vor Diebstahl, Manipulation und Spionage schützen soll. Was aber, wenn das Recht auf Privatsphäre mit der allgemeinen Sicherheit kollidiert, der elektromagnetische Schutzwall eingerissen werden muss, um individuellen oder staatlichen Schutz zu gewährleisten? Befördert der globale und grenzenlose Datenaustausch die bedrohliche Vision vom gläsernen Menschen der Zukunft? Die erste Ausstellung des AZKM soll ein kritisches Augenmerk auf dieses Dilemma unseres euphorisch gestimmten Medienzeitalters legen – politische Untertöne sind nicht ausgeschlossen, geradezu erwünscht.
Der Anfang also ist gemacht: Das Gebäude prunkt schon bald in restaurierter Schönheit, die Ateliers werden gerade bezogen, die erste Ausstellung verspricht intellektuelle Qualität. Was man trotz aller Euphorie aber bisweilen vermissen wird, ist die alte Hawerkamphalle, den vormals genutzten Ausstellungsraum. Der lag fast in der Industriebrache, hatte etwas Unfertig-Improvisiertes, wusste sich in unmittelbarer Nähe von Schwulenzentrum und Sputnikhalle, in der Punk und HipHop zu Hause sind, eher einer Off-Kultur verbunden denn dem etablierten Kunstleben der Stadt. Das ist jetzt anders. Der »Speicher II« ist Teil des sogenannten Kreativkais, einer aufgemotzten Zeile von alten, historisch wenig wertvollen Industriebauten und Bürohäusern am wirtschaftlich abgetakelten Hafen. Den Auftakt macht das Wolfgang Borchert-Theater, es folgt ein Fitnessstudio, der Hot Jazz Club, Agenturen, Restaurants und Cafés unterschiedlichster Couleur. Es ist vielleicht etwas zu schnell chic geworden, hier das Geschäftsessen zu veranstalten, zur After-Work-Party zu gehen oder schnell zwischendurch den Espresso zu nehmen. Ab späten Nachmittag trifft man am Hafen ein Publikum, das nie den Weg zur alten Hawerkamphalle genommen hätte. Die Mieten im Viertel steigen schon; bald wird es »in« sein, auch hier zu wohnen. Es bleibt zu hoffen, dass der Hafen einen Teil seiner Ursprünglichkeit erhält und nicht zu einer zu Tode sanierten Schaumeile der Eitelkeiten herabsinkt, in der Kunst nichts anderes ist als ein dekoratives Aperçu.
Speicher II, Hafenweg 28, 48155 Münster; Eröffnung der »Ausstellungshalle Zeitgenössische Kunst Münster« (AZKM) mit der Ausstellung »Firewall« am 27. Juni (bis 5. September) 2004. Tel.: 0251/492-4191