TEXT: REGINE MÜLLER
Warum noch ein Buch über Wagner? Bereits vor dem Jubiläumsjahr 2013, in dem sich am 22. Mai der Geburtstag des Meisters zum 200. Mal jährt, war Wagner der Komponist, über dessen Leben und Werk weitaus mehr Pubkilationen erschienen sind als über jeden seiner Kollegen. Allein die Bayerische Staatsbibliothek verzeichnet gut 8.800 Titel. Und seit dem Herbst letzten Jahres hat anlässlich des Jubiläums eine Flut von Neuveröffentlichungen über den Apologeten des Gesamtkunstwerks eingesetzt. Kein namhafter Sachbuchverlag lässt es sich nehmen, zum Wagner-Jahr mindestens einen neuen Titel beizutragen in Form von Werkbetrachtungen, Biografien und Abhandlungen zu problematischen Einzelaspekten seines Lebens und Werks, von denen es bekanntlich nicht wenige gibt. Aber: Ist nicht längst alles gesagt und gedacht über den Sachsen, der wie kein zweiter nach wie vor fasziniert, aber auch polarisiert?
Tatsächlich ist Wagner ein unerschöpfliches Thema. Aus vielen Gründen. Zum einen war er eine – sagen wir – schillernde Figur mit teils höchst zweifelhaften Eigenschaften. Sein Leben ist überreich dokumentiert, nicht zuletzt durch seine (freilich stark beschönigende) Autobiografie »Mein Leben«, wie auch durch Tausende von Briefen und Dokumenten von Zeitgenossen und die Aufzeichnungen seiner zweiten Gattin Cosima. Doch gerade die Überfülle an Material macht die Annäherung an die Person und den Künstler zu einem nicht enden wollenden Prozess, der ein abschließendes Urteil kaum zulässt.
Es kann bei Wagner daher wohl nur darum gehen, einzelne Aspekte zu beleuchten und in neue Zusammenhänge zu stellen. Auch das ein Prozess, der wohl niemals enden wird. Zumal die Achterbahnkurven seines Lebens nicht nur Abbild seiner zwanghaften und instabilen, dabei ungeheuer energetischen Existenz sind, sondern auch ein Spiegel jener nervösen, schicksalhaften und von Umbrüchen geprägten Epoche, in der Wagner wirkte. Ganz zu schweigen von seinem Werk, das hoch komplex, rätselhaft und brisant bleibt. Es bietet keine Gewissheiten und Bequemlichkeiten. Es bleibt Herausforderung. Wagner war Avantgardist, und das radikal. An seinen eigenen Werken hat er aktualisierend herumgebastelt. Als Künstler wäre Wagner auch heute sicherlich auf Seiten der Erneuerer, die sein Werk immer wieder neu lesen und deuten wollen. Er selbst fordert uns explizit auf, ihn immer wieder zum Zeitgenossen zu machen.
»Der kleine Wagnerianer« will und kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit einlösen. So ist der Titel auch eher ironisch zu verstehen, denn weder sind wir zwei Autoren, mein Kollege Enrik Lauer und ich, erklärte Wagnerianer, noch wollen wir die Leser dazu machen. Wir gehen, bei aller Sorgfalt, sogar ziemlich frech und respektlos an den Meister und sein Werk heran. Der Ansatz der »zehn Lektionen« ist journalistisch und propädeutisch. Das heißt: Die Werkbetrachtungen schrauben Wagners Opern nicht taktweise in musikwissenschaftlicher Absicht auseinander, und die Abschnitte zu Wagners Leben verzetteln sich nur schlaglichtartig in biografischen oder akademischen Einzelheiten. Getreu dem Untertitel »Für Anfänger und Fortgeschrittene« wird beim Leser nichts vorausgesetzt. Die intellektuelle Basis der Analysen fußt auf der kritischen Psychoanalyse, dem Poststrukturalismus und der Medientheorie und fühlt sich vor allem der textnahen Deutung verpflichtet – auch und vor allem der oft geschmähten Libretti! Denn Wagner als sein eigener Librettist und Dramaturg ist eben auch ein Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchung.
In musikalische Analysen vertieft sich nur die zweite Lektion, »Mehr als ein Revolutionär – Tristan und Isolde: Was Wagner für die Musikgeschichte bedeutet«. Ausgehend vom berühmten Tristan-Akkord, der als Geburtsstunde der Moderne gilt, wird zunächst Wagners Werdegang vom Spätzünder über den verkrachten Musikstudenten zum radikalen Autodidakten verfolgt. Anhand der abenteuerlichen Entstehungsgeschichte des »Tristan« drängt sich der Gedanke auf, dass viele von Wagners genuinen Neuerungen möglicherweise auch aus der Not entstanden, das klassische Komponistenhandwerk nur unzureichend zu beherrschen. Schließlich stellt sich die Frage, ob der »Tristan« überhaupt eine Liebesgeschichte ist oder dort nicht vielmehr eigentlich der »Tod wütet«.
Die folgenden Überlegungen umkreisen den »Lohengrin«, die »Meistersinger«, »Ring« und »Parsifal«, also keineswegs das Gesamtwerk und lesen vor allem die Libretti und psychischen Konstellationen durchaus unorthodox.
Dass Wagner selbst ausschließlich Ur-Sachen verhandelt, liegt auf der Hand. Fast all seine Protagonisten handeln im Banne verpatzter Ursprünge und Vorgeschichten. So lesen wir die Opern als archäologische Erkundungen von Welten in ihrer jeweiligen Endzeit. Anders gesagt: Wenn der Vorhang sich hebt, sind alle Bedingungen der Möglichkeit des Scheiterns bereits geschaffen. Wie bereits bemerkt, hatte Wagner stark zwanghafte Züge. Angefangen bei seinem desaströsen Verhältnis zu Geld und zum Luxus (dem sich das Kapitel »Unverschämt genial« widmet), bis zu seiner double-bind-artigen Haltung zur Sexualität. Solche Tiefenstrukturen in Leben und Werk werden, heiter im Ton, ernsthaft in der Sache, ausgeleuchet. Und weil es nun mal die (Vor-)Geschichte unserer Welt ist, die Wagner erzählt, fallen die Schatten auch auf uns und unsere Zeit.
Darwin, Marx und Wagner waren nicht umsonst fast aufs Jahr genau Zeitgenossen. Nietzsches Tod 1900 und Freuds entsprechend vordatierte »Traumdeutung« bilden symbolische Mittelachsen zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert. Ebenso wenig wie Rassisten vom Schlage Gobineaus oder des Wagner-Schwiegersohns Houston Stuart Chamberlain bloß Unfälle der Geistesgeschichte jener Zeit waren.
Psychoanalytische Überlegungen durchziehen motivisch die Lektionen, ausdrücklich widmet sich das Kapitel »… nichts als Wahrtraumdeuterei« dem Thema Psychoanalyse. Ausgehend von Wagners ausgeprägtem Interesse am Traum, zumal den eigenen Träumen, gehen wir hier Wagners Nachtgeweihten und Traumtänzern nach und versuchen, die ins Vegetative vordringende Macht seiner Musik zu ergründen. Schließlich wird Wagners dunkelste Seite auch nicht ausgespart: »Die Erlösung Ahasvers: Der Untergang« widmet sich seinem Antisemitismus.
Ohne Zweifel war Wagner Antisemit, aber damit befand er sich in seiner Zeit in bester Gesellschaft. Viele Geistesgrößen, auch einige romantische Dichter, waren damals explizit judenfeindlich und hielten mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg. Wagner war darin kein Ausnahmefall, sondern reihte sich zunächst in den Common Sense ein. Damit wird seine Haltung allerdings keineswegs entschuldigt, zumal sein Antisemitismus mit seiner Vorliebe für Verschwörungstheorien eine besonders unangenehme Mischung ergab. Der erste Sündenfall war seine Schrift über »Das Judentum in der Musik«, die er sogar zweimal heraus brachte. Das, was heute zu Recht diskutiert wird, ist Wagners Rolle während der Nazi-Zeit. Kapitel Neun resümiert, wie es dazu kam, und welchen Part insbesondere seine ihn lange überlebende zweite Ehefrau Cosima, die viel härtere Antisemitin, dabei einnahm. Sie hat das Werk ihres verstorbenen Gatten sozusagen eingefroren und hat dann der braunen Macht inklusive Adolf Hitler, der in Bayreuth Stammgast war, die Türen geöffnet.
Gewissermaßen als Satyrspiel – und nicht ganz ernst gemeint – reiht sich an siebter Stelle noch ein Kapitel über die Begleiterscheinungen des Wagner-Opernbesuchs ein. Da kommt die im Titel beschworene, allerdings zunehmend im Aussterben begriffene Gattung »Wagnerianer« noch einmal zu ihrem Recht.
Enrik Lauer, Regine Müller: »Der kleine Wagnerianer«, C.H. Beck, München, 2013, geb, 261 S. mit Illustrationen; 17,95 Euro.