TEXT: HEINZ-NORBERT JOCKS
Unsere erste Begegnung im Jahre 2000, noch in seinem Kölner Atelier, kurz vor seinem Aufbruch nach London, wo Wolfgang Tillmans im gleichen Jahr als erster Nicht-Engländer mit dem renommierten Turner-Preis ausgezeichnet wurde und wo er bis heute lebt, endete abrupt mit Tränen. Auf die letzte Frage, was er jetzt in diesem Augenblick als Glück bezeichnen würde – ein Thema, das sich leitmotivisch durch sein fotografisches Werk zieht, gab er ganz spontan die knappe Antwort: »Wenn Jochen noch am Leben wäre«. Der 1997 an Aids verstorbene Maler Jochen Klein, den Tillmans 1995, am Ende seines New Yorker Jahres, kennengelernt hatte, ist ein uns vertrauter Protagonist früher Arbeiten. Mit denen gelang Tillmans der Durchbruch als Künstler.
Einmal sieht man Klein in melancholischer Stimmung, nackt in einer Badewanne, eine verdörrte Zimmerpflanze im Hintergrund. Andere Bilder aus der Phase zeigen das unbekleidete, auf den Ästen eines Baumes vergnüglich und unbekümmert herumturnende Paar »Lutz & Alex«. Außer-dem getragene Hosen aller Art, auf einem Heizkörper locker zum Stillleben drapiert. Dann gibt es einen jungen Mann mit entblößtem Oberkörper, den Kopf bis auf einen schmalen Haarstreifen in der Mitte kahl geschoren. Wir beobachten ihn, wie er mit einer Zigarette in der Hand, dabei seine Jeans halb heruntergezogen und vor einem grün gepolsterten Bürostuhl wie vor einem Pissoir aufgestellt, auf diesen wie selbstverständlich uriniert.
Mit simplem Vergnügen an debilen Einfällen, das ihn manchmal überkomme, erklärt Tillmans das Entstehen dieses für das Pornomagazin Honcho entworfenen Bildes. Dabei redet er das Biografische klein, obgleich es hinter beinahe allem, was er tut, indirekt zu lauern scheint. Mit gewisser Eindringlichkeit warnt er vor zu viel Tiefenpsychologie. Die Idee habe in ihm drei oder vier Jahre gegoren, ehe sich schließlich eine passende Gelegenheit ergeben hätte. Mal auch käme der Einfall zu einem Bild direkt im Moment seiner Umsetzung.
Alles in allem zeugt das breit angelegte Repertoire von Tillmans’ disparaten Motiven von einer unüberblickbaren Diversität. Und macht es unmöglich, es einem hantierbaren Kontext unterzuordnen. Insofern herrscht in seinem Bildkosmos mehr ein assoziatives Neben- als einheitsstiftendes Miteinander. Und die von ihm inszenierten Ausstellungsinstallationen mit wechselnden Kombinationen aus unterschiedlichen Formaten, kleine bis große, wie jetzt für die Kunstsammlung NRW arrangiert, lassen das Einzelbild in einem die Sinnsuche ausschließendem Motivmeer geradezu verschwinden. Kein Motiv wird zu etwas Besonderem erhoben, alles befindet sich im Fluss und kann rekombiniert werden. Narrative Stränge und Vernetzungen lassen sich so wenig herauskristallisieren wie notwendige Abfolgen. So werden Zeiten synchronisiert. Die Anordnungen in den Installationen gleichen einem Universum, in denen Bilder wie Sterne zwar in festen Distanzen zueinander stehen, aber jeweils für sich existieren. Es ist der Ausdruck eines sich an seiner Diskontinuität erfreuenden Lebens. Aus der Perspektive des Fotografen scheint die Welt in ihrer Unendlichkeit so absurd wie bunt. Schillernd, schön, geheimnisvoll, komplex, traurig und humorvoll. Und voller Sinnenreize.
ER IST FASZINIERT VON FLUGZEUGEN
Entsprechend springt das fotografische Auge zwischen Adaptionen bekannter Ansichten, indirekten Zitaten privater Codes, Zufallsbegegnungen, mehr oder weniger gewöhnlichen Dingen, die seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Da kommt es beiläufig zum Bild einer Tasse mit Café, in deren Schwarz sich ein hoch aufschwingender Baum spiegelt. Parallel dazu der klare Blick aus dem Flugzeug über Wolken hinweg ins Blaue hinein, wo die Freiheit grenzenlos zu sein verspricht. Dort oben lässt auch ein Passagier beim Frühstück, als wäre er allein und ungestört, seinen halb erigierten, von seiner Hand umfassten Penis aus der weißen Jeanshose baumeln.
Überhaupt faszinieren Tillmanns, der von 1990 bis 1992 am Bourenmouth & Poole College of Art and Design in Südengland studierte und 1988 begann, für die Magazine i-D, Tempo, Spex und Prinz zu fotografieren, Flugzeuge beim Start oder bei der Landung, insbesondere der fantastische Flug der Concorde. Ansichtssachen: Das zarte Lächeln einer schönen Frau, an einem Tisch mit Erdbeeren und Tomaten sitzend, hält er ebenso fest wie den Zungenkuss zweier verliebter Jungen. Drei am Strand ineinander verschlungene, sich umeinander windende Körper erfasst er aus der Vogelperspektive. Oder ein Typ im Profil, der an einer Zigarette saugt, während seine weiße Haut von einem Schweißfilm überzogen ist. Weniger spektakulär sind die weidende, von Fliegen umschwirrte Kuh oder der öde Anblick der Außenfassade eines Hauses mit leeren Balkonen. Schließlich die an seinen Freundes- und Bekanntenkreis in London verschickten Bilder aus Hamburgs Diskotheken wie dem »Front«, einem ehemaligen populären House- und Schwulenclub.
Mit diesen Aufnahmen, die, obwohl arrangiert, das Flair eines Schnappschusses verbreiten, machte sich Tillmans einen Namen als kongenialer, nach Glanz und Schönheit des Nachtlebens jagender Chronist nicht nur der Rave-Szene, sondern der neunziger Jahre insgesamt. Als Repräsentant seiner Generation, der den spezifischen Geist und das Atmosphärische der Epoche exakt auf den Punkt brachte und ihm zum bildnerischen Ausdruck verhalf, gelang ihm die Vermischung von Zufall und Inszenierung. Schon damals war er mehr als nur ein notorischer Fotograf und obsessiver Insider der subkulturellen Club Culture-Szene. Auch wenn er sich dieser exzessiven Lebenswelt eng verbunden fühlte, Spaß am Durchfeiern, Lust auf Drogen und ein Mitteilungsbedürfnis hatte, das zu fotografieren, was um ihn her geschah, zieht er keine engen Grenzen. »Die Welt in Szene und Nicht-Szene einzuteilen, finde ich albern«, sagt Tillmans. »Jeder ist doch erst einmal ein Mensch und vielleicht an zweiter Stelle der Vertreter eines vermeintlichen Stammes, einer Gruppe oder Szene. Genau genommen habe ich mich, wenn ich mich irgendwelchen Jugendgruppen mit der Kamera näherte, immer gewei-gert, derartige Zuordnungsmöglichkeiten zu liefern. Ich plädiere für ein inklusives Menschenbild und bin gegen alles Exklusive.«
NUR KEINE RETUSCHE
Mitten im Geschehen, doch auf Distanz bedacht, kreierte der 1968 in Remscheid geborene Tillmans damals so etwas wie eine neue Vision von Authentizität. Während die gefeierte Kunst eines Gursky darin besteht, die Wunder des Digitalen bis an die Grenzen auszuschöpfen, weigert sich Tillmans, derartige Eingriffe vorzunehmen. Nur keine Retusche. Keinerlei Manipulation. Alles soll bleiben, wie es aufgenommen wurde, als wären wir noch in der Epoche der analogen Fotografie. »Die Welt ist doch schon absurd und surreal genug. Von daher ist es doch lächerlich, sie ändern zu wollen. Was sollte ich da verbessern«, so Tillmans. Was auf uns wie die hautnahe Beschreibung des realen Lebens wirkt, darin sieht er mehr die Erfindung einer Utopie. Seine Arbeit ziele auf die Schaffung einer Wunschwelt. »Folglich handelt es sich bei dem, was ich zur Darstellung bringe, um eine Idealisierung unter Zuhilfenahme von realistischen Techniken. Diese bewirken, dass es nicht wie eine Fiktion anmutet, sondern wie etwas Reales. Dabei ist der Wunsch nach Zusammensein, nach Verschmelzung oder Gemeinsamkeit mein ganz fundamentaler Antrieb.«
Tillmans, der ein zweites Studio in Berlin unterhält, ist kein Meister des Lichts. Mehr den Reizen der Farbe erlegen, die er als Naturphänomen begreift, belässt er es nicht dabei, die Welt der konkreten Erscheinungen zu registrieren. Ab und an lässt er sie für Experimente in der Dunkelkammer hinter sich. So entstanden seine »Silver Installations«, in denen er die Wirkung von Silberoxydspuren auf dem Fotopapier auskostet. Farben, nichts als Farben leuchten einem da entgegen. Blau und Orange, Rot und Grün in monochromer Anmut. In den Abstraktionen gehe es »um das, was das Sehen von Farben und Nicht-Farben in Auge und Hirn hervorrufen«, resümiert er. Vom unendlichen Zauber der Farbe künden auch seine aktuellen Bilder von Reisen, unternommen in den letzten drei Jahren. Er macht keinen Hehl daraus, als Tourist unterwegs zu sein, um der Möglichkeit nachzuspüren, »an fremden Orten Dinge aufzuzeigen, die etwas darüber aussagen, wie die Welt ist«.
Was die Aufnahmen von unterwegs mit früheren verbindet, ist das Interesse an der Erforschung der Oberflächentexturen in ihrer satten Schönheit. Um das Koboldäffchen aus nächster Nähe zu sehen, setzte er zu der entlegensten Insel der Philippinnen über. Einen Wasserfall nimmt er mit der gleichen Intensität wahr wie einen farbprächtigen Paradiesvogel mit langem Rotschnabel oder einen jungen Inder im knallig violetten Kaftan, angelehnt an ein fast gleichfarbiges Auto, entdeckt im saudi-arabischen Dschidda. Seit Erscheinen des Buches »Neue Welt« ist von einem Wendepunkt, von einer vermehrten Weltoffenheit im Werk von Wolfgang Tillmans die Rede. Dabei sucht er doch nur die Länder auf, deren Kulturen sich im ethnisch reichen London kreuzen. Für ihn ist diese Metropole, in der eine Kopftuchdebatte nicht auch nur ansatzweise vorstellbar sei, eine »Erfolgsstory«. Und werde nur »gestört und belastet von der seit Thatcher gängigen Ideologie, dass der Staat schlecht und der Markt gut sei«. So beschrieb er es in seinem Beitrag »Es lebe London« für die ZEIT anlässlich der sinnlosen Gewalttaten, die er nicht als kriminelle Akte deutet, sondern als »Weckruf«.
Wolfgang Tillmans, 2. März bis 7. Juli 2013, K21 Ständehaus, Düsseldorf; www.kunstsammlung.de