TEXT: ANDREAS WILINK
So inszeniert man ein Abenteuer, das gewissermaßen James Camerons »Titanic« mit Hitchcocks »Life Boat« und Terrence Malicks »Tree of Life«, den »Robinson Crusoe« und »Das Dschungelbuch« kombiniert. 227 Tage auf See werden in Yann Martels Roman »Life of Pi« zur exzeptionellen Initiationsreise. Ang Lee ist der ideale Regisseur für die Adaption des 2001 erschienenen Romans des kanadischen Booker Prize-Gewinners, auch wegen der Crossover-Kultur, die die Hauptfigur Pi verkörpert, und der Vermittlung von Ost und West. Als Hindu aufgewachsen, will der indische Junge sich katholisch taufen lassen; außerdem demonstriert er seine Nähe zum Islam mit einem Gebetsteppich. Er sammelt seine religiösen Superstars wie andere Jugendliche Popidole, ist also offen für spirituelle Erfahrungen aus allen Himmelsrichtungen. Wer Jesus, Maria, Mohammed und Vishnu anruft, hat vorgesorgt. Pi kann den Beistand gebrauchen.
Sein Schicksal trägt er gewissermaßen schon im Namen, den ihm sein Vater Santosh Patel, ehemaliger Hotel- und nunmehr Zoobesitzer gab. Pi, abgekürzt für Piscine Molitor nach einem feinen Pariser Schwimmbad, steht im Zeichen des Wassers. Die Familie will auswandern, und weil sich nicht alle Tiere verkaufen lassen, wird ihr Schiff für die Überfahrt zur Arche Noah. Aber anders als in der Bibel steht die Reise unter keinem guten Stern. Die Tsimtsum sinkt im Pazifik. Pi überlebt mitsamt tierischer Kollektion. Der Größe nach: eine Ratte, eine Hyäne, ein Orang-Utan, ein Zebra und Königstiger »Richard Parker« (ein Tribut an E. A. Poe) mit 450 Kilo Lebendgewicht.
Allein schon beim Meeressturm zeigt Ang Lee, dass er nicht nur ein Meister des Gesellschaftsdramas und Melodrams ist, ein »Hochzeitsbankett« anrichten und den »Brokeback Mountain« beschwören, sondern auch »Tiger and Dragon« zähmen und die Effekte des Katastrophenfilms feldherrlich einsetzen kann. Zwischen Mensch und Tier, die sich belauern wie Heath Ledger und Jake Gyllenhaal als erotisch hungrige Cowboys in der freien Wildbahn, kommt es zum Überlebenskampf auf engstem Raum: Pi muss in sich das Alphatier wecken gegenüber der Großkatze, deren überlegene Ruhe und Instinkt, etwa beim Erspüren von Gefahren, ihn beeindruckt. Respekt als Basis. Ein enormer Wärmestrom durchglüht die Geschichte in 3D, nicht nur, wenn Erdmännchen glotzen, ein Wal auftaucht, Delphine vorüberstreichen, das Firmament leuchtet, die Natur in Ekstase gerät, Farben explodieren und Blumen mit Tugenden wie Mut und Hoffnung um die Wette wachsen. Sondern ebenso in der das Exotische transformierenden, meditativen Grundhaltung, die das Leben von Pi vor und nach dem großen Abenteuer begleitet und zum Festgesang auf Fantasie und Fabulierlust steigert.
»Schiffbruch mit Tiger«; Regie: Ang Lee; Darsteller: Suraj Sharma, Irrfan Khan, Adil Hussain, Ayush Tandon, Tabu, Rafe Spall, Gérard Depardieu; USA 2012; 120 Min.; 26. Dezember 2012.