HAARIG
»Die Schöne und das Biest« in Düsseldorf
Drinnen ist es wie draußen: nur bunter. Graffiti überschminken das bauchige Fassaden-Rund des Düsseldorfer Schauspielhauses, das im Modell auf der Bühne ebendort steht. In der Realität wäre die Stadtreinigung fix zur Stelle auf dem Gründgens-Platz. Überhaupt: Realität! Aus der französischen Fantasie über »Die Schöne und das Biest« wird unter der Hand von Marc Prätsch (Regie) und Barbara Kantel deutsche Prosa der Verhältnisse – post Erich Kästner. Der Vater (Jost Grix) von Belle und ihren konsumverwöhnten Tussi-Sisters Lisa und Sophia wird arbeitslos, so dass der alleinerziehende Ernährer mit den Töchtern aufs Land umzieht, wo sich umweltbewusst Windräder drehen, pummelige Schäfchen weiden und das hölzerne Außenklo malerisch zum Hippie-Wohnmobil passt. Nach einem Motorradunfall, der vor einer aufgezogenen Videoleinwand ziemlich Effekt macht (wie überhaupt die Bewegungen der Bühnentechnik Seelenregungen ersetzen), landet Papa in der schnieken Villa des durch einen Fluch verunstalteten punkig frisierten »Biests« und muss dem Monstrum, um heimzudürfen, versprechen, ihm die erste Person zu schicken, die ihm in seiner Freiheit begegnet. Dies aber ist Belle. Sie muss als Opfergabe zum Biest, wird ihn erlösen und einen glatten Prinzen in dem haarigen Kerl finden: Liebe macht sehend.
Vielleicht hätte man das Stück besser im Märchenland gelassen, so landet es im Niemandsland der Gegenwart: wo eine Madame Chichi dem Biest den Haushalt schmeißt, ein schwuler Fitnesstrainer lispelt und tänzelt, ein Psychodoktor kaspert und morgendliches Workout den Fortgang der Handlung hemmt. Ein Saxofon-Solo des verliebten Biests hinterlässt den besten Eindruck im musikalischen Begleitprogramm. Das Spielteam tut cool, modern und sozial. Und bleibt seltsam auf Abstand zu seiner dünnen Erzählung und den Figuren, da bringt auch der recht erwachsene Kuss zwischen Belle (Stefanie Rösner) und Biest (Gregor Löbel) nur momentan Nähe. Das Herz pocht hier kaum, auch wenn es sportlich hochschlägt. Der meistbelachte Gag bei Eltern wie Kindern war der, dass Belle, als sie in goldenen Shorts auftritt, vom schwesterlichen Luxusluder gefragt wird, wo sie die her habe. Von Madame Chichi, antwortet sie. Replik: »Die Marke kenne ich nicht.« Düsseldorf macht seinem Namen als Shopping-City Ehre. (Ab 6 Jahren.) | AWI
NICHT ALLES HUMBUG
Dickens’ »Weihnachtsgeschichte« in Bonn
Fieser geht’s kaum. Geld, Geschäfte und das eigene Spiegelbild – dafür lebt er. Der gute Rest sei »Humbug!« So lautet das Lieblingswort von Ebenezer Scrooge. Immer wieder bringt er es lauthals hervor. Liebe? –»Humbug!«, Freundschaft? – »Humbug!«, eine Spende für die Armen? –»Alles Humbug!« Wer »A Christmas Carol« von Charles Dickens nicht gelesen hat, kennt die Weihnachtgeschichte vermutlich aus dem Kino, selbst Mickey Mouse und die Muppets widmeten sich der Erzählung von 1843. Barry L. Goldman hat den Klassiker bearbeitet und in den Kammerspielen Godesberg inszeniert: mit viel Fantasie, Effekten, originellen Einfällen, mit Schneegestöber und altenglischem Zauber. Mit Gefühl, Musik, subtiler Komik – und einigem Grusel und Schock. Denn die braucht es, um aus dem Griesgram Scrooge einen mitfühlenden Menschen zu machen, als der er geläutert lächelnd die Bühne verlässt.
In den zwei Stunden davor macht er allerhand durch. Geister erscheinen ihm: ein kettenklimperndes Nachtgespenst tritt aus seinem geliebten Spiegel, eine weiße Feengestalt mit komischer Lichterkrone rollt auf dem Fahrrad-Oldtimer an, des weiteren ein schwabbeliger Riese im Morgenmantel und ein schwarz verhüllter Todesbote. Sie reisen mit dem Schwerbelehrbaren durch Zeit und Raum, wecken in ihm Erinnerungen an vergangene Weihnachtsfeste, führen ihn zu Schauplätzen der Gegenwart und prophezeien ihm einen schäbigen, einsamen Tod, wenn er sich nicht….
Die Reise war also nicht immer bunt und lustig; in der ärmlichen Stube von Scrooges ausgebeutetem Angestellten und auf den grauen Straßen des nächtlichen London logieren Tristesse, Elend, Verzweiflung, Kälte, ein totes Kind und ein Haufen hämischer Leichenfledderer. Doch der Horrortrip hat sich gelohnt. Amüsiert sieht man zu, was der gewendete Scrooge so anstellt, um sich ein Lachen zu entlocken. Er schafft es. Am Ende macht der alte Herr jede Menge Pennies locker und spendiert den dicksten Truthahn: Happy Christmas! (Ab 6 Jahren.) | STST
BONBONBUNT
»Kleiner König Kalle Wirsch« in Bochum
»Sind Sie nicht zu alt fürs Kindertheater?!« blafft die leicht hysterische Ratte gleich zu Beginn einen bärtigen Zuschauer an, während sie sich durch die erste Reihe kämpft. Nein, man ist auf keinen Fall zu alt für diese Version von Tilde Michels »Kleiner König Kalle Wirsch«. Die Geschichte hat man als Kindheitsfernseh-Erinnerung der Augsburger Puppenkiste noch einigermaßen präsent – die Kinder Jenny und Max treffen auf Kalle Wirsch, den König der Erdmännchen; der Wirsche, Wolde, Gilche, Trumpe und Murke. Sein Thron ist in Gefahr, seit der zwielichtige Zoppo Trump und dessen Handlanger, die Ratte, ihn zum Zweikampf herausgefordert haben. Jenny und Max machen sich gemeinsam mit Kalle Wirsch (Florian Lange) auf den Weg unter die Erde, um dem kleinen König beizustehen.
Katja Lauken (Regie) und Kathrine von Hellermann (Bühne) brachten in Bochum bereits Jim Knopf auf die Bühne; zusammen mit Maren Geers (Kostüme) haben sie auch dieser Geschichte die Puppenkistennostalgie weggeföhnt: mit skurrilen Figuren wie besagter Ratte und Fledermaus Tutulla, die wie eine bonbonbunte, zerzauste Version von Amy Winehouse daherträllert. Das Bühnenbild ist vielfach angenehm reduziert, um zwischendurch richtig aufzudrehen: wie im Innern des Rubinbergs, den die Helden durchqueren müssen. Da flirrt und glitzert es lamettahaft und silber-dunkelrot; zudem tanzen irre »Echokugeln« säuselnd und Lolli-bewaffnet einher, um Jenny und Max in die Irre zu führen. Auch wenn es mal etwas slapstickhaft zugeht, ist die Geschichte gutgelaunt-übermütiges Familientheater, das das Publikum einbindet. So bringen Kalle Wirschs magische Kräfte nicht nur die Kristalle im Stück zum Leuchten, auch das Saallicht beginnt zu flackern. Manchmal kann direkte Ansprache aber auch nach hinten losgehen. Zur Premiere sprach der falsche König Zoppo Trump die Zuschauer mit »Liebe Erdmännchen! « direkt als sein Volk an; die Retourkutsche kam prompt von einem kleinen klugen Jungen, der treffend anmerkte: »Wir sind überhaupt keine Erdmännchen!« (Ab 5 Jahren.) | VKB
ABENTEUER FREUNDSCHAFT
»Robinson und Freitag« nach Defoe in Moers
Ein zivilisierter Mann weiß, was er sich schuldig ist, auch noch nach beinahe 20 Jahren allein auf einer einsamen Insel. Also bringt Robinson seine struppigen und zersausten Haare jeden Morgen wieder in stylishe Unordnung. Wenn er sich zum Essen an den improvisierten Tisch setzt, nimmt er ein riesiges Blatt und befestigt es wie eine Serviette vor seiner Brust. Es sind diese kleinen, in der Einsamkeit der Tropen absurd gewordenen Dinge, die den Schiffbrüchigen in Julius Jensens freier Adaption von Daniel Defoes klassischem Abenteuerroman charakterisieren.
Frank Wickermann erweist sich als extrem heutiger Robinson. Mit seinen Macken ist er der typische Großstädter aus der alten Welt, der sich wahrscheinlich selbst nicht mehr erinnern kann, weshalb er einst unbedingt zur See wollte. Nun hat er sich in seinem Unglück eingerichtet. Alles ist genau durchgeplant, jeder Tag gleicht dem anderen. Das gibt Sicherheit und Hoffnung – irgendwann wird schon ein Schiff kommen. Mit der Ordnung ist es allerdings vorbei, als ein Fischer von einer benachbarten Insel auf Robinsons Eiland strandet. Natürlich kommt dieser Freitag an einem Donnerstag an und damit einen Tag zu früh. Diese Ironie ist typisch für Robinsons neuen Leidensgenossen. Als Robinson ihn nach seinem Plan fragt, sagt der einfach nur: »Erst mal schauen, dann mal sehen.« Bei Katja Stockhausen, die Freitag mit unbändiger Lebensfreude erfüllt, klingen solche Sätze fast philosophisch. Klar, das ist ein Gag, aber entwaffnend weise. Bühnenbildner Christoph Rasche hat die Moerser Theaterhalle in eine malerische Südseeinsel samt Schiffswrack und Vulkan verwandelt. Und wird dann zum Abenteuerspielplatz, auf dem sich eine poetische Geschichte von der Macht der Freundschaft erzählt. Geschickt ist der Roman auf die Annäherung der beiden grundverschiedenen Gestrandeten reduziert und schlägt komödiantische Funken aus dem Zusammenspiel des seltsamen Paars. (Ab 5 Jahren.) | SAW
HANDWERKSKUNST
»Pinocchio« in Aachen
Dass die Aufführung fast hätte abgesagt werden müssen, weil die Abteilung Bühnenbild versehentlich auch den Scheit namens Pinocchio verbrettert habe, war dann doch nur ein Gerücht. Aber der Holzbedarf in Aachen muss enorm gewesen sein: Überall stehen Kisten herum, darunter auch eine von der Größe eines Lkws. Mit Akkuschrauber und allerlei anderen Heimwerkerutensilien klopft und hämmert sich das Ensemble zunächst den Sound des live-musikalisch begleiteten Familienstücks zusammen. Meister Gepetto lässt grüßen. Zwischendrin lehren Julia Brettschneider und Wiebke Alphei ihr Gliederpüppchen putzmunter das Laufen, so dass der Gefährte bald schon derart einherstakst, dass er all seine storchenbeinigen Vorbilder aus Film und Fernsehen sofort vergessen lässt. Was vor allem Brettschneider als Puppenspielerin dem Holzkopf stimmlich an naiver Frechheit mitgibt, ist allerfeinste Animationskunst.
Überhaupt zeichnet sich Jonas Knechts Inszenierung des italienischen Kinderbuchklassikers von Carlo Collodi durch vornehme Zurückhaltung aus. Die Bühne (Michael Köpke) ist geschmackvoll bekistet, so dass bei entsprechender Stapelung noch reichlich Platz ist, damit aus dem Schnürboden Baum, zauberhafte Pflanzen genauso wie das angedeutete Maul eines Wals herabfahren können. Viel Raum also für kindliche Fantasie, wozu auch passt, dass Jonas dem pädagogischen Subtext der Geschichte nicht unbedingt aufs Wort gehorcht. Sein »Pinocchio« stimmt nicht mit ein in das in G8-Zeiten wieder lauter gesungene Hohelied auf Fleiß, Disziplin und Zielstrebigkeit. Stattdessen bringt man eine auch inhaltlich reduzierte Abenteuergeschichte auf die Bühne. Nur drei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler braucht es dafür, die aber sind bestens aufgelegt. Wie heißt es doch in der Werbung einer großen Baumarktkette: »Handwerkersein ist keine Frage des Werkzeugs, sondern eine Frage des Gefühls.« (Ab 6 Jahren.) | ANK
DURCH DIE GRÜNE BRILLE
L. Frank Baums »Zauberer von Oz« in Dortmund
Das nennt man wohl gutes Timing: Kurz bevor Disney seine Neuverfilmung des »Zauberer von Oz« ins Kino bringt, kann man L. Frank Baums Kinderbuchklassiker in Dortmund auf der Bühne sehen. Auf 3D und Dolby Surround muss man verzichten, dafür steht – genau wie im Buch – die kleine Dorothy im Mittelpunkt und nicht der Zauberer. Ein paar Freiräume nimmt sich auch die Inszenierung. Onkel Henry und Tante Em sind nicht die puritanischen American Gothic-Farmer aus dem Original, sondern freundliche Gestalten, die Landstreicher aufnehmen und sich liebevoll um Dorothy kümmern. Drehbuchautor Andreas Gruhn hat sich außerdem eine böse Vermieterin ausgedacht, die Dorothy und ihre Familie von ihrer Farm verscheuchen will, weil sie ihre Schulden nicht bezahlen können. Zum Glück kommt ein Sturm dazwischen, der Dorothy in das Traumland Oz hinfortträgt.
Dort trifft sie die berühmten Figuren: die wandelnde Vogelscheuche, den Blechmann, den feigen Löwen, diverse Hexen und natürlich den Zauberer selbst. Leicht haben es die Schauspieler hier nicht – immerhin konkurrieren sie mit Berühmtheiten wie Judy Garland, Diana Ross, den Muppets und Michael Jackson (als Vogelscheuche in der Version von Sidney Lumet). Das Ergebnis kann sich trotzdem sehen lassen. Schade nur, dass die Kulissen recht spartanisch ausfallen. Das Schlafmohnfeld ist eher ein Blumenzaun, vom Zauber der Smaragdstadt, in der alle grüne Brillen tragen, bleibt nur ein Tor, und die von Elton John besungene »Yellow Brick Road« fehlt ganz. Da hätte man aus der bildgewaltigen Vorlage schon mehr herausholen können. Und so macht dieser »Zauberer von Oz« vor allem dann Spaß, wenn man von den diversen Vorgängern nicht allzu viele kennt. (Ab 6 Jahren.) | JUK
HEITERLAND
»Peter Pan« in Essen
In ihrem puppenstubenschönen Kinderzimmer liegt die kleine Wendy im Bett und schläft. Da huscht ein Lichtlein über Boden und Wände, es rappelt in der Hundehütte, die Nana, der eisbärgroße Kindermädchenhund, verlassen hatte, und heraus flutscht die Fee Tinker Bell mit Leuchtflügelchen und Lämpchenkleid, auf der Suche nach dem Schatten, den Peter Pan bei seinem letzten Besuch verloren hatte. Gleich taucht der Junge, »der nicht erwachsen werden wollte«, auch schon selber auf, Wendy erwacht – und ist bald mit Fee und Peter auf dem Flug ins Nimmerland.
Das Grillo-Theater Essen hat sich, um den jüngsten Teil seines Publikums vorweihnachtlich zu erfreuen, James M. Barries Stück »Peter Pan« ausgesucht, Henner Kallmeyer hat es inszeniert und die Übersetzung Erich Kästners gewählt, in der Tinker Bell »Klingklang« heißt. Die wird von der an sich schon elfenhaften Barbara Hirt als ein irrlichternd süß-komisches und nur ein ganz klein wenig eifersüchtiges Flitzmädchen gespielt, doch das Stück weist nun einmal die wichtigere Rolle Wendy zu, die hier dem Sprung ins Land der Fantasie und der Geschichten doch sehr die lustvolle Entschlossenheit nimmt. Denn Antonia Labs lässt Wendy eine Zwölfjährige sein, der man zumutet, mit sehr viel Kleineren zu spielen; ganz überzeugend ist sie erst, als sie für Peter Pans »verlorene Jungs« die Mama abgeben und sie herumkommandieren darf. Der titelgebende Reifeverweigerer indes ist bei Silvia Weiskopf ein mit sich identischer, innerlich reiner Lausbub, wie man ihn aus Heimatfilmen der 50er Jahre kennt. Gewaltig, und das heißt auch bedrohlich, aber sind die himmelhohen Bäume von Nimmerland (Bühne Franziska Gebhardt) und vor allem das muschelüberwucherte Seeräuberschiff, auf dem die Kinder ihren Finalkampf mit Käpt’n Hooks Piraten ausfechten: im Viervierteltakt der Livemusik, die weit munterer als das Schauspielensemble agiert. (Ab 6 Jahren.) | UDE