INTERVIEW: BETTINA TROUWBORST
Sie sind lebende Ikonen: Reinhild Hoffmann und Susanne Linke begründeten – zusammen mit Pina Bausch, Johann Kresnik und Gerhard Bohner – das deutsche Tanztheater im Geist des Folkwang-Urvaters Kurt Jooss. Henrietta Horn führt diese Tradition in dritter Generation weiter. Alle drei sind ehemalige Leiterinnen des Folkwang Tanz Studios in Essen, Keimzelle des modernen Tanzes. Das Trio hat einen Abend am Stadttheater in Bielefeld gestaltet, für dessen Tanzsparte Gregor Zöllig seit 2005 verantwortlich ist. Hoffmann und Linke rekonstruieren. Horn zeigt die Uraufführung »Pixelmann«, eine Interaktion von Video und Tänzern. Doch die Ästhetik des Tanztheaters verschwindet zunehmend von deutschen Bühnen. Was bleibt?
K.WEST: Frau Linke, das dreiteilige Programm wirft ein Schlaglicht auf die Ästhetik des deutschen Tanztheaters. Wie fühlt es sich an, wieder in diese bewegte Zeit einzutauchen?
LINKE: »Effekte« ist 20 Jahre alt. Klar, das hätte ziemlich daneben gehen können. Aber mein Bestreben war immer auch, Themen zu wählen, die zeitlos sind und nicht à la mode. Gerade bei diesem Stück geht es um die Zukunft.
K.WEST: Wie sieht die aus?
LINKE: Zwei Tänzer betreten in einer postapokalyptischen Zeit verseuchten Boden. Es geht darum, wie mit ihren Ängsten gespielt wird. Ein cooles Paar – mit Sonnenbrille und überhaupt todschick – kann nicht mehr tun, was früher selbstverständlich war. Spazieren gehen, essen. Als Musikcollage habe ich gemeinsam mit dem Sound-Designer Wolfgang Bley-Borkowski unter anderem Kriegsgeräusche mit Schüssen und detonierenden Bomben unterlegt. Und alles ist in gelb-grünes Licht getaucht. Das ist eben die Neuzeit, mit Gefahren, die man damals schon erahnte.
K.WEST: Das Stück entstand 1990 – vier Jahre nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl.
LINKE: Ja, und bei den Proben habe ich festgestellt, dass es noch wahrer geworden ist, als ich es damals vermutet hätte. Die Verseuchung der Erde, des Grundwassers und der Luft sind heute ein großes Thema. Man kann nicht in einen Supermarkt gehen und einfach eine abgepackte Gans kaufen, weil man nicht weiß, womit sie gefüttert wurde. Diese Problematik ist in den letzten 20 Jahren enorm gewachsen.
K.WEST: Frau Hoffmann, »Auch« von 1980, ebenfalls ein Duett, setzt sich wie die anderen Stücke Ihres Soloabends »Solo mit Sofa«, »Bretter« und »Steine« mit Beschränkungen von Bewegungsfreiheit auseinander. Was trieb Sie um?
HOFFMANN: In meinen Soloarbeiten hat es mich immer gereizt, mir eine Beschränkung aufzuerlegen. Über Grenzen zu gehen – das forderte mich heraus. In »Bretter« gebe ich mir z. B. als Ausgangspunkt nur den Raum, den mein Körper einnimmt, in dem ich mir drei Meter lange Bretter auf den Rücken schnalle und den Raum vor mir mit einem weiteren Brett begrenze.
K.WEST: Schrecklich!
HOFFMANN: Nein! Es war gar nicht schrecklich, nein, nein, nein! Sie müssen es viel positiver nehmen. Die Bretter sind eine Verlängerung des Rückens. Das verlangt eine andere Körperkontrolle. Es sind zwei Bretter gewesen, die man zum Beispiel zu Kreuzformen verändern konnte. Und wenn ich mich entsprechend bewegt habe, wurden Flügel daraus. Dann bekam der Vorgang Leichtigkeit. Wenn ich mich hingesetzt habe, wurden die Bretter zum Stuhl. Mich hat die Gesetzmäßigkeit des Materials interessiert. Indem ich mich ihr ausgesetzt habe, habe ich andere Bewegungen erfunden.
K.WEST: Und was hat es mit den Steinen auf sich?
HOFFMANN: Ich habe in der Bretagne wunderschöne Steine gefunden, in verschiedenen Größen, abgeschliffen vom Meer. Einige habe ich in Verbandsschläuche getan, andere im Raum verteilt. Ich habe sie als Klanginstrumente benutzt und bin selbst – in einem langen Prozess – zu einer Steinschleuder geworden, weil ich sie an meinen Körper gewickelt habe. Wenn ich mich drehte, hat die Zentrifugalkraft sie auseinander getrieben. Wenn ich mich auf den Holzboden warf, gab es ein enormes Geräusch. Das war einfach aufregend, weil ich ohne Musik gearbeitet habe.
K.WEST: Das klingt nach Forschungsprojekt.
HOFFMANN: Choreografen forschen nicht. Das Lustprinzip ist viel stärker dabei.
LINKE: Heute sagt man Forschungsarbeit – wir haben einfach gemacht. Mein zweiter Vater war Physiker, der hat geforscht, mit wissenschaftlichem Ansatz. Wir waren ganz naiv, hatten eine Vision und haben gesagt, wir versuchen das mal. Ich wollte meine Badewanne ganz leicht haben, Reinhild wollte es ganz schwer haben.
K.WEST: Die Rekonstruktion von »Auch« wird gefördert vom »Tanzfonds Erbe«. Warum braucht das historisch so bedeutsame und einflussreiche deutsche Tanztheater besondere Unterstützung durch die Kulturstiftung des Bundes?
HOFFMANN: Es ist nicht der Ansatz, dass es einer Förderung bedarf. Es geht darum, daran zu erinnern. Die Frage ist: Wie kann man eine Kunstform, die man nicht festhalten kann, die nur im Augenblick lebt, noch wahrnehmen? Rudolf von Laban hat eine Schrift entwickelt, um sie wie Musik mit einer Notation festzuhalten. Aber das ist sehr mühsam. Selbst der Film ist noch nicht die lebendige Form. Der Gedanke war, wenn man all die großen klassischen Ballette aus dem 19. Jahrhundert noch sehen kann, warum dann nicht auch die Stücke des Tanztheaters.
K.WEST: Aber »Der Nussknacker« braucht keinen Tanzfonds Erbe.
HOFFMANN: Das ist es ja eben. Das klassische Ballett hat die Tradition des Repertoires. Der moderne Tanz ist erst ein Jahrhundert alt. Man fängt erst an, darüber nachzudenken, ihn nicht zu verlieren.
LINKE: Das klassische Ballett hat kodifizierte Schrittfolgen. Es gibt ganz bestimmte Begriffe, die schon beim Choreografieren benutzt werden. Das ist im modernen Tanz noch nicht so. Das dauert. Ich finde es ganz toll, dass die Bundeskulturstiftung diese Einsicht hatte. Was in den 70er Jahren alles aufgebrochen ist, und das in ganz Europa, war eine große Blüte.
K.WEST: Frau Horn, warum haben Sie sich entschieden, den deutschen Ausdruckstanz weiterzuführen?
HORN: Ich habe überhaupt nichts entschieden, man hat das immer so über mich gesagt. Ich habe auch nie gesagt, dass ich Tanztheater mache.
K.WEST: Aber Sie haben schon bewusst an der Folkwang studiert?
HORN: Ja, das habe ich schon mitgekriegt. Aber ich habe mir auch durchaus andere Hochschulen, Arnheim zum Beispiel, angeguckt. Ich habe ein gespaltenes Verhältnis zum Begriff Tanztheater. Der Blick auf Menschen, die von der Folkwang kommen, ist zu meiner Zeit so besetzt gewesen, dass es eine Last war, dieses Erbe zu tragen.
HOFFMANN: Ich möchte das mal eben ergänzen: Man vergisst immer, wodurch der Begriff entstanden ist. Wir waren die Allerersten, die im Theater zeitgenössischen Tanz machten. Wir mussten dem Publikum klar machen, dass wir kein klassisches Ballett aufführen. Dazu mussten wir den Begriff Ballett ersetzen. Ich habe gesagt, wir machen Theater mit Tänzern. Hans Kresnik nannte seine Arbeit Choreografisches Theater, Pina Bausch ihre Tanztheater Wuppertal. Wir haben uns später Tanztheater Bremen genannt. Aber was in allen Köpfen ist: Was Pina machte, ist Tanztheater. Und man denkt immer, es ist nur narrativ. Aber das Genre kann ganz viel sein.
LINKE: Uns es geht nicht nur darum, dass eine Bewegung schön ist, sondern, dass sie einen Sinn hat. Das, was uns von innen bewegt, drücken wir mit dem Körper aus, nicht mit der Sprache. Das ist der Kernsatz für den deutschen Tanz, würde ich sagen. Das war bei Mary Wigman so, bei Kurt Jooss und bei Pina letztendlich auch.
HOFFMANN: Vorher hieß es Ausdruckstanz. Das bedeutete Emotionen. (Sie ballt die rechte Hand zur Faust und legt sie dramatisch an die Stirn) Aber es war nicht nur das. Es war wie in der bildenden Kunst: Es gab die Moderne, eine die gegenständlich und eine, die nicht gegenständlich gearbeitet hat. Ausdruckstanz hat nicht nur den dramatischen Moment.
K.WEST: Entspringt Ihre Arbeit dem Folkwang-Geist?
HORN: Ja, nein. Ich könnte nicht sagen, wo mein Ursprung ist. Aber diese Ausbildung ist ein ganz wichtiger Teil meines Lebens. Und vielleicht bin ich da auch hingegangen, weil sich diese Art der Erzählweise oder dieses verbohrte deutsche Denken deckt mit meinem Wesen. Ich liebe dieses verbohrte deutsche Denken. Es ist eine große Qualität. Man bleibt irgendwo hängen und will es noch und noch und noch genauer wissen.
LINKE: Deshalb sage ich auch »deutscher Tanz«. Dieses Grübeln ist etwas sehr Deutsches. Aber vor 20 Jahren hieß es immer sofort: Nazi-Wort! Aber im Grunde ist Deutschland das einzige Land in Europa, das den modernen Tanz lebendig gemacht hat – ähnlich wie Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts das klassische Ballett.
K.WEST: Mitte der 70er Jahre war das Tanztheater Avantgarde. In den 80er Jahren boomte es weltweit und gehörte zu den wichtigsten Kulturexportartikeln der Bundesrepublik. Kein Theaterfestival ohne Tanztheater. Beim Berliner Theatertreffen waren Stücke von Pina Bausch und Reinhild Hoffmann abwechselnd unter den zehn besten Regieabenden. Mit welchen Qualitäten überzeugte die neue Kunstform?
LINKE: Beim klassischen Ballett ging es immer um Pathos und Virtuosität – Glorifizierung der Schönheit. Die Choreografen waren immer Männer. Dann brachte Pina aus New York das Psychologische nach Deutschland und wollte wissen: Was ist in uns drin? Die 1968er-Generation fing an zu fragen. Hans Kresnik wandte sich mit politischem Choreografischen Theater an die Gesellschaft. Frauen wie Pina ging es dagegen um den Kampf der Geschlechter. Diese Themen waren völlig neu. Uns interessierte es, das Banale des Alltags darzustellen.
HOFFMANN: Wir wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen, weil wir ohne Sprache den ganzen Abend erzählen konnten. Das hat das Schauspiel ungeheuer fasziniert. Wie Autoren haben wir unsere Libretti selbst geschrieben.
ZÖLLIG: Das Tanztheater hat eigentlich das Schauspiel und die Oper revolutioniert. Es hatte mit Autorenschaft zu tun. Man denke an »Die Stunde da wir nichts voneinander wussten« von Handke, das beinahe ohne Sprache auskommt, oder an Einar Schleef …
LINKE: … oder an Christoph Marthaler oder an Konstanze Lauterbach, die hat ja beinahe bei uns abgeschrieben …
K.WEST: Schauen wir auf die Gegenwart. Heute verschwindet das deutsche Tanztheater immer mehr von den städtischen Bühnen. Kresnik hat man erst in Berlin, dann in Bonn den Stuhl vor die Tür gestellt. In Bremen hat in dieser Spielzeit Samir Akika Urs Dietrich abgelöst, in Münster musste Daniel Goldin gehen. Sein Nachfolger Henning Paar zeigt wieder Ballett. Das Wuppertaler Ensemble ist ein tanzendes Museum. Hat sich die Ästhetik überlebt?
HOFFMANN: Man muss akzeptieren, dass es immer einen Generationswechsel gibt. Eine neue Generation, die ihre eigenen Themen und Ausdrucksformen finden muss. Trotzdem ist es wichtig, dass die Tanzformen der vergangenen Generationen noch in direkter Anschauung erlebbar sind. Meine Arbeit könnte man schon nicht mehr sehen, wenn es nicht diese Initiative von Tanzfonds Erbe gäbe.
K.WEST: Die Tendenz ist eindeutig rückläufig.
ZÖLLIG: Ja, das ist so. Ich glaube, es liegt daran, dass wir nicht so berechenbar sind, auch bei den Besucherzahlen. Heute wird kein Intendant mehr eine Produktion weiter laufen lassen, wenn nur 20 Zuschauer im Saal sitzen – wie einst in Pinas »Sacre«. Man muss erfolgreich sein. Ich hatte noch das Glück, in meiner Anfangszeit Fehler machen zu dürfen. Die Auslastungszahlen in Osnabrück waren das Grauen. Dieser Abend hier wird zwar von sehr renommierten Damen gemacht, aber ob die Bielefelder ihn annehmen, wissen wir noch nicht.
»Tanztheater von Reinhild Hoffmann, Susanne Linke und Henrietta Horn«. Auff.: 8.,19.,20. Dezember 2012, Stadttheater Bielefeld. www.stadttheater-bielefeld.de