TEXT: KATRIN PINETZKI
Peter Zadek und Peter Stein. Dieter Dorn und David Bösch. Karin Beier und Karin Henkel. Jürgen Kruse und Jürgen Hartmann. Martin Kušej und Jürgen Gosch – Regisseure, die, von ihrer Bekanntheit einmal abgesehen, nicht viel gemein haben. In einem jedoch gleichen sie sich: Sie alle setz(t)en auf Klaus Figge.
So sieht er also aus: der Mann, der mindestens 30 finale Kämpfe zwischen Hamlet und Laertes ersann, der Tybalt mit allen denkbaren Waffen auf Mercutio hetzte. Der Mann, dessen Name kaum je im Programmheft fehlt, wenn auf einer größeren deutschen Bühne gekämpft wird, und der seit vier Jahrzehnten Schauspielschülern an der Folkwang Hochschule das Kämpfen lehrt – seit 41 geschlagenen Jahren, sozusagen: Überraschend klein ist er, sehr weiß seine Haare. Klaus Figge trägt Cowboystiefel und graue Cargo-Hosen. Sein verwaschener Kapuzenpulli ist weit und schlabberig, doch darunter erahnt man die Körperspannung, die den ehemaligen Sportler ausweist.
Figges stahlblaue Augen saugen sich gerade an dem Kampf fest, der auf einer schiefen, nur etwa sechs Quadratmeter großen Ebene ausgefochten wird. In der Mitte der kleinen Spielfläche steht auch noch ein Pfeiler, an den eine Schauspielerin gefesselt ist. Die schiefe Ebene wird später zum Schiff, der Pfeiler zum Mast, die Akteurin zu Wendy. Und die Kämpfenden, sie werden sich in Kapitän Hook und Peter Pan verwandeln. »Tack. Tack. Hoch. Und rum. Die müsste schneller sein, die Drehung«, murmelt er. Dann laut: »Stopp! Bitte noch mal!«
JEDER SCHRITT MUSS SITZEN
Andreas Grothgar lässt Haken und Degen sinken, Silvia Weiskopf dreht sich herum. Es ist der Schlusskampf, in dem Peter Pan den Hook besiegt und Wendy befreit. Bis zur Premiere am 11. November ist es noch ein Monat. Die Schritte sitzen, doch erst seit drei Tagen proben die Schauspieler auf der Schräge. Für Improvisation ist kein Platz, jeder Ausfallschritt, jede Gewichtsverlagerung muss exakt sitzen, bevor das Tempo angezogen werden kann. Klaus Figge klettert etwas umständlich auf die Bühne – die Knie! – und nimmt den Degen, um die Drehung vorzumachen. Der nächste Durchgang. »Gut! Gut!«, ruft er. »Mal’n bisschen loben«, brummt er dann.
In seinem ersten Leben war Klaus Figge Sport- und Geschichtslehrer an einem Gymnasium in Essen: Referendar, Studienrat, Oberstudienrat. Doch die Schule hatte ihn nie ganz. Schon kurz nach seinem Examen, 1971, nimmt Figge auch einen Lehrauftrag der Folkwang Hochschule an. Dort wird ein Lehrer für Bühnenkampf gesucht. Zufällig erfährt Figge davon und bewirbt sich, denn zufällig kann er sehr gut fechten – hatte das Fach an der Sporthochschule Köln sogar studiert. Der Fecht- und Kampf-Unterricht macht ihm Spaß, und schon bald kommt die erste Anfrage des Essener Schauspiels für eine Kampf-Choreografie. Mit dem Theater hat er bis dato kaum Berührung. Figge und das Theater, es war keine Liebe auf den ersten Blick.
THEATER NUR GANZ ODER GAR NICHT
Doch jede Produktion bindet ihn stärker an diese kleine verschworene Gemeinde, jedes Engagement zieht weitere nach sich: Wer einmal mit ihm gearbeitet hat, wird zum Fürsprecher. Figges Schulleiter ermöglicht die Seitensprünge seines Lehrers – der sich schließlich komplett gegen die Beamtenlaufbahn und für die Bühne entscheidet. Theater, das geht auf die Dauer nur ganz oder gar nicht.
Der Start in die große Bühnenwelt ist mit Uwe Ochsenknecht und Peter Simonischek verbunden. Figge hatte in Wuppertal die Fechtszenen für »Romeo und Julia« choreografiert. In der Rolle des Romeo: der junge Ochsenknecht. »Er war gerade dabei, bekannt zu werden, deswegen saßen wohl Leute von der Schaubühne im Publikum. Sie fanden die Fechtszenen gut und luden mich nach Berlin ein, wo ebenfalls ›Romeo und Julia‹ anstand«, erzählt Figge. »Den Tybalt sollte Peter Simonischek geben. Mit ihm hatte ich bereits in Düsseldorf gearbeitet, er empfahl mich zusätzlich bei der Regie«, erzählt Figge. Kleine Anekdoten mit großen Namen – Figge könnte hunderte davon erzählen.
EIN LIEBLING DER KRITIK
Heute hat Klaus Figge einen Luxus-Job. Wenn eine Theater-Produktion gut wird, dann ist der Erfolg auch sein Erfolg. Wenn sie scheitert, wird er – manchmal als einziger – lobend erwähnt. Zuletzt in Bochum, als die Kritik Katharina Thalbachs »Cyrano de Bergerac« einmütig verriss. Über Klaus Figge hingegen hieß es, er habe »mit den Schauspielern wie immer Beachtliches erarbeitet«. Zu David Böschs »Romeo und Julia« in Wien schrieb der Standard, die Fechtszenen seien »mustergültig choreografiert« – ansonsten war der Rezensent wenig begeistert. Und über die Stockkämpfe in Sebastian Nüblings Ruhrtriennale-Produktion »Next Level Parzival« hieß es, sie seien »von einer Präzision und Heftigkeit, wie man sie auf dem Theater selten sieht.« Man kann sagen, Klaus Figge ist ein Liebling der Kritik. »Kampfchoreograf Nummer eins des deutschsprachigen Theaters« nennt ihn das Deutschlandradio; »Bühnenkampf-Legende« ist die gängige Beschreibung.
Was macht diesen Mann zur Legende? Diesen 70-Jährigen, der zwar noch immer aus dem Stand vorwärts über die Schulter abrollen kann, dessen kaputte Knie ihn jedoch inzwischen daran hindern, die Bühnenrampe schwungvoll zu nehmen? Kampf-Lehrer gibt es schließlich an jeder Schauspielschule. Doch viele Regisseure wollen eben nur Figge. Christina Paulhofer etwa engagierte ihn zeitweise für fast jede Produktion. »Sie fühlte sich einfach sicherer, wenn er dabei war«, sagt ihr langjähriger Assistent Henner Kallmeyer.
FIGGE IST EINFACH DER BESTE
Kallmeyer ist der Regisseur des Essener »Peter Pan«, und auch für ihn stand außer Frage, dass er für die Kämpfe Figge holt. »Er holt aus den Schauspielern einfach mehr raus«, sagt er, »ich kann eine Menge Figge-Kämpfe nacherzählen. Der Tollste war der Schlusskampf in Jürgen Kruses ›Trying Macbeth‹. Die Schwerter wurden immer größer, bis zu zwei Meter lang.«
Man kann noch so viele Theaterleute fragen, die Antwort lautet stets ähnlich: Figge ist einfach der Beste. Und das hat nicht nur mit Techniken zu tun, und auch nicht nur mit der Ruhe und Souveränität, die er während der Proben ausstrahlt. Figge hat offenbar das Theater-Gen – szenische Fantasie, kombiniert mit einem Gespür für starke Bilder und dem Talent, mit wenig Aufwand große Wirkung zu erzielen. Er hat nicht nur Ahnung von Ring- oder Box-, von Karate-, Kung Fu- oder Schwerterkämpfen – er weiß auch, wie man sie auf die Bühne bringt. Und zwar so, dass die Zuschauer den Atem anhalten, die Schauspieler sich nicht verletzen und auch im dritten Rang noch etwas zu sehen ist. Figge weiß, aus welcher Perspektive man den tödlichen Stich zeigt. Er weiß, wie man zur Musik boxt und wie man Kampfgeschehen akustisch untermalt. Er weiß, dass ausgespuckte weiße Bohnen am besten Zahnverlust simulieren. Er weiß, dass Tybalt laut Shakespeare die Doppelte Finte und den Punto Reverso wie aus dem Lehrbuch beherrscht, während Mercutio eher der unkonventionelle Fechter ist.
Als Peter Zadek Angela Winkler als Hamlet wollte, brachte Klaus Figge ihr das Fechten bei, und als jüngst beim »Cyrano de Bergerac« in Bochum ein Schauspieler kurzfristig ausfiel, da duellierte sich Klaus Figge höchstselbst mit Armin Rohde. »Den Ablauf kannte ich ja«, sagt er trocken. Das Publikum dankte mit mehrfachem Szenenapplaus.
DER TRAINER ARBEITET AUTONOM
Das Geheimnis des Klaus Figge ist vielleicht, dass er sich jeder Produktion, an der er mitarbeitet, mit Haut und Haar verschreibt. Er wird Teil des Ganzen, so wie alle am Theater. Was machen Sie, wenn Sie mit einem Regiekonzept mal nicht einverstanden sind? – diese Frage kann Figge nicht beantworten, sie stellt sich einfach nicht. »Manchmal denke ich schon, so würde ich es nicht machen«, antwortet er dann vorsichtig. Aber wenn der Regisseur es so entscheidet, dann übt er mit zwei Schauspielerinnen auch das Fechten im Minirock und auf High Heels ein – obwohl in T.S. Eliots »Die Cocktailparty« gar keine Fechtszene vorkommt. Dann choreografiert er in Bochum einen Kampf mit brennenden Äxten oder setzt in Hannover einen Ringkampf halbnackter Frauen im Sand in Szene.
Oder er wirft das Ergebnis von vier Wochen Arbeit einfach weg, weil der Regisseur es sich anders überlegt hat: »Am Burgtheater inszenierte Zadek ›Der Jude von Malta‹ mit dem jungen Hans Diehl. Wir probten vier Wochen lang mit Offizierssäbeln. Die Szene war quasi perfekt, Zadek hatte sie aber noch nicht gesehen. Eines Tages sagte der Regisseur: ›Ich habe mir überlegt, wir machen den Kampf lieber mit Messern.‹« Nicht einmal anschauen habe Zadek die fertige Szene wollen.
Ein untypisches Erlebnis. Meist kennt Figge das Regiekonzept, dann erarbeitet der Bühnenkampf-Experte ›seine‹ Szenen autonom. So auch beim Essener »Peter Pan«: Wenn’s ums Hauen und Stechen geht, gibt Regisseur Kallmeyer die Hoheit an Figge ab und hält sich raus. Der Rahmen ist klar: Ein Stück für Kinder ab sechs Jahren – da braucht es actionreiche Szenen mit Witz und Pfiff, die nicht zu brutal werden. Klaus Figge kombiniert einen Fechtkampf mit einem Backpfeifen-Duell à la Bud Spencer, er lässt einen Piraten über Bord kitzeln und ersinnt Kaugummi-Blasen als Ablenkungsmanöver. Ein großer Kampf-Spaß, hinter dem wochenlange Arbeit an winzigen Stellungsdetails steckt.
Auf die Frage, mit welchen großen Regisseuren er noch nicht zusammengearbeitet hat, muss Figge lange überlegen. »Frank Castorf«, sagt er schließlich, »und Roger Vontobel.« Allerdings: Es sind nicht die große Namen, die ihn an seiner Arbeit interessieren. »Klaus macht keinen Unterschied zwischen Burgtheater und freier Bühne«, weiß Regisseur Kallmeyer. Und erzählt, dass Klaus Figge neulich einen Stockkampf am Rottstraße 5-Theater einstudiert habe, einer kleinen freien Bühne in Bochum. »Es war zufällig eine Woche, in der ich Zeit hatte«, sagt Figge, »ich wollte eigentlich nur ein Mal hingehen, aber es hat mir Spaß gemacht.« Er hätte es eigentlich vorher wissen müssen: Theater, das geht nur ganz oder gar nicht.