TEXT: ANDREAS WILINK
Draußen im Nordmeer in Sichtweite der norwegischen Küste liegt ein Fels mit rundem Rücken wie ein Wal. Mehrmals ruht die Kamera auf dem kolossalen kahlen Stein. Man denkt, er müsse eine Bedeutung haben, ein Symbol sein – etwas jenseits materiellen Vorhandenseins. Aber das ist wohl falsch. Was ebenso auf die Menschen dieser Winter-Geschichte zutrifft: auf ihr Tun und ihr Unterlassen und die daraus resul-tierenden Konsequenzen. Menschen sind, wie sie sind – unergründlich. Das psychologische Instrumentarium erklärt nicht alles. Niels, Maria und ihr halbwüchsiger Sohn Markus ziehen nach Hammerfest. »Wir brauchen eine zweite Chance«, sagt Maria zu einer Freundin. Das klingt wie aus einem amerikanischen Film – oder eben einem deutschen. Matthias Glasner ist ein sehr deutscher Regisseur, den unerbittlich letzte Fragen interessieren. Die Familie hat Norwegisch gelernt, lebt sich gut ein. Er arbeitet als Ingenieur für eine Raffinerie und hält neben dem Haus Schafe und Hühner; sie ist Pflegerin auf einer Hospiz-Station und singt im Chor. Es ist Polarnacht. Der vertraute Jahres-Rhythmus gerät aus dem Takt, die Zeit selbst scheint aus den Fugen.
Eines Nachts nach dem Dienst überfährt Maria mit ihrem Auto etwas oder jemanden. Sie gerät in Panik, hat Angst. Zuhause erzählt sie Niels davon. Der sucht den Weg ab, findet nichts. Am nächsten Tag lesen sie, dass ein 16-jähriges Mädchen zu Tode kam. Von einem Moment auf den anderen haben sich die Koordinaten ihres Lebens radikal verschoben.
Zunächst halten wir Niels (Jürgen Vogel) für brutal realitätstüchtig. Fast ein Gefühlskrüppel. Ruppig verhält er sich gegenüber seinem Sohn, den Kollegen und der jungen Frau, mit der er ausgiebig Sex hat. Maria (Birgit Minichmayr) hingegen, wie sie mit den Sterbenskranken umgeht, scheint gebenedeit unter den Frauen. Nach der Tat bzw. der unterlassenen Hilfe (Maria: »Ich bin nicht dieser Mensch«) verteilen sich die Gewichte anders: Einfühlung und Abwehr, Weichheit und Verhärtung, Sprechen und Schweigen. Niels legt eine profane Beichte ab. Maria ist sich ihrer moralischen Urteile nicht mehr sicher. Und Markus, der seine Eltern mit dem Handy filmt und belauscht und der mit dem Bruder des toten Mädchens Mette in eine Klasse geht und sich am Mobbing gegen den Jungen beteiligt, lernt auch etwas: dass sich zu entschuldigen nicht genügt. Dass es keinen Anspruch auf Verzeihung gibt. Wohl eine Beichte. Und vielleicht »Gnade«.
Die Geschichte endet zur Mittsommernacht. Der Gefrierpunkt ist überwunden. Es hat getaut. Die Natur sprießt. Anders, als etwa in Woody Allens »Match Point« suchen die Geister der Toten die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen nicht heim. Das Leben scheint nicht im Schatten der Schuld zu stehen. »Gnade« ist Matthias Glasners bester, nein, es ist sein erster guter Film. Formal leichter und weniger gedunsen als gewohnt und überhaupt reif, klug und aufrichtig.
»Gnade«; Regie: Matthias Glasner; Darsteller: Jürgen Vogel, Birgit Minichmayr, Henry Stange, Ane Dahle Torp, Maria Bock, Stig Henrik Hoff; Deutschland 2012; 131 Min.; Start: 18. Oktober 2012.