TEXT: MICHAEL STRUCK-SCHLOEN
Plötzlich, nach der Wiedervereinigung, hatte sie wieder Konjunktur, die so genannte »Kinderhymne«, die Bertolt Brecht 1950 gedichtet und Hanns Eisler vertont hatte. »Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, daß ein gutes Deutschland blühe wie ein andres gutes Land.« So wenig staatstragend lautet die erste Strophe des Liedes, das in Metrum und Wortwahl eine Antwort auf das in der Bundesrepublik wiedereingeführte Deutschlandlied war, aber auch eine »sanfte« Alternative zur DDR-Hymne von Johannes R. Becher. Denn obwohl es Brecht nicht an Aufbaupathos und erneutem Selbstbewusstsein in der Staatengemeinschaft fehlen lässt, kommt die »Hymne« poetischer und bescheidender daher. Vor allem fällt sie auf durch die untypische Betonen des »Wir« – nicht mehr Staat oder Nation, sondern der solidarisch empfindende Mensch steht hier im Mittelpunkt.
In keiner Aufnahme kommt die Humanität des Textes, aber auch ihre Aussichtslosigkeit in der Zeit des Kalten Kriegs berührender zum Vorschein als in Hanns Eislers eigenem Vortrag aus seinen späten Jahren (er starb am 6. September vor 50 Jahren in Ostberlin). Die Stimme klingt flach und schlägt in der Höhe um, Eisler wirkt kurzatmig, die Aussprache ist österreichisch weich, wenn auch ohne älplerische Färbung. Was aber der alte, körperlich verbrauchte Mann aus diesem dürftigen Material macht, ist herzzerreißend und raffiniert zugleich. Er weiß die fließende Melodie zu gestalten und kraftvolle Akzente zu setzen, weiß die Intensität des Barrikadensängers mit der Innigkeit des Verlorenen zu vereinen.
»Aus diesen wunderschönen Aufnahmen hört man seine Herkunft, sein Temperament und die Identität mit dem Material, und das alles ist nicht reproduzierbar«, sagt der Komponist Heiner Goebbels über den singenden Eisler der späten Jahre. Dieser Komponist lag ihm seit der Frankfurter Studienzeit am Herzen: weil er seine einfachen, kraftvollen, gesinnungsstarken Stücke mochte, und weil damals, zu Beginn der 1970er Jahre, ohnehin alles politisiert war. Für Goebbels war Eisler ein Original in vielfacher Hinsicht; vor allem aber war er keiner jener Neutöner, die es plötzlich notwendig und schick fanden, mit den Parteiwölfen oder den Studenten zu heulen, ansonsten aber weiter ihrer bürgerlichen Musikästhetik anhingen. Durch Eisler ging nicht dieser Riss, sondern der Mensch und der Künstler waren beide in der Wolle rot gefärbt. Deshalb wurde er für den jungen Soziologiestudenten und Jazzmusiker Heiner Goebbels so wichtig wie wohl nur noch Heiner Müller auf literarischem Gebiet.
Da verstand es sich fast von selbst, dass man zur Feier von Eislers 100. Geburtstag im Jahr 1998 Goebbels um eine Hommage fragte – ohnehin hatte sich im Westen der Republik außer ihm kaum ein Kollege für den in Leipzig geborenen Sohn des Wiener Philosophen Rudolf Eisler interessiert. Also sichtete Goebbels noch einmal Eislers Werk und hörte sich die stundenlangen Gespräche mit Hans Bunge über Musik und Brecht und Politik an. Das Ergebnis war der etwa einstündige Zyklus »Eislermaterial«, den Goebbels in enger Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern erstellte. Und da ertönt gleich zu Beginn jenes Lied, das man, wenn man es einmal aus Eislers Mund gehört hat, eigentlich gar nicht mehr für reproduzierbar oder gar arrangierbar hält: die Kinderhymne.
Zuerst vernimmt man – intoniert von einem schnarrenden Harmonium aus Heilsarmee-Beständen – nur die dürre Begleitung ohne Text, eine Musica povera von der Straße für die Straße. Goebbels scheut sich nicht, Eislers Zitat aus seiner eigenen DDR-Hymne, das er da hineingeheimniste, mit voller Breitseite zu servieren. Die übrigen Musiker setzen ein mit einem schmalzigen Arrangement, später singen sie selbst den Text, zuletzt trägt ihn der Schauspieler Josef Bierbichler mit unausgebildet fisteliger, leicht brüchiger Stimme vor. Da greift also der Eisler-Verehrer Goebbels gleich zu Beginn so tief in den politischen Honigtopf, dass man sich erschreckt fragt, wie man diese Sozi-Folklore wohl eine Stunde lang überstehen mag.
Aber wie Eisler ist auch Goebbels ein Fuchs, der uns erst auf die falsche Fährte setzt, um uns dann umso rüder aus nostalgischen Träumen zu reißen. Unvermittelt und lautstark rattert ein Satz aus Eislers Kleiner Sinfonie, einem Werk aus dem amerikanischen Exil, durchs Ensemble. Hat man sich allmählich auch an diesen kämpferischen Geschwindmarsch gewöhnt, spielt plötzlich die Klarinette einen Break, und der Satz endet in einer Gruppenimprovisation, aus dem sich wiederum ein sanftes Eisler-Andante herauslöst, dann warnt uns Bierbichler mit einigen Wiegenliedern für Arbeitermütter vor Unterdrückung und Krieg – und in diesem Wechsel geht es in Miniaturen fort zwischen sozialistischer Liedromantik, Jazzsoli, Anklängen ans Straßentheater und komponierten Sätzen. Selbst Eislers Stimme ist in zwei witzigen Collagen zu hören.
Die Botschaft dieser ungewöhnlichen Hommage ist klar: Eisler, so suggeriert Goebbels, ist einer von uns, einer, der um die Nöte der einfachen Menschen wusste und Musik als Äußerungsform gegen jede Art von Herrschaft verstand. Zum demokratischen Ansatz passt, dass die meisten Arrangements in Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern entwickelt wurden, dass die Musiker bunt gemischt und »unhierarchisch« auf Holzbänken sitzen und der Dirigent – fehlt. »Eisler hätte das sehr begrüßt«, meint Goebbels, der freilich Praktiker genug ist, um zu wissen, was ohne Dirigent machbar ist und was nicht. So ist Eislermaterial das Werk eines Perfektionisten, der sich spontan gibt und nicht alle Fragen, die er aufwirft, auch selbst beantwortet. Nicht nur deshalb ist das Stück eine würdige Gabe zu Ehren des scheidenden Kölner Museumsmannes Kasper König.
Heiner Goebbels, Eislermaterial, mit Josef Bierbichler und dem Ensemble Modern. Ein Fest zu Ehren von Kasper König (mit abschließendem Programm, moderiert von Harald Schmidt); Kölner Philharmonie, 13. Oktober 2012. www.koelner-philharmonie.de