TEXT: ANDREAS WILINK
Ein alter Mann schleppt sich nach Hause, Schuhputzer ist er in Havanna. Müde dreht er an seinem Transistorradio, als er politische Parolen hört, sucht er gleich einen anderen Sender. Plötzlich erklingt für ihn Altbekanntes. »Melodien von Gestern« heißt die Sendung. Chico träumt sich zurück – in die Endphase des Regimes von Batista, als Kuba das den USA vorgelagerte Vergnügungsviertel war und die Weißen in den Nachtclubs sich die Mädchen aussuchen konnten. In dieser Zeit lernt der junge Pianist Chico die schöne Rita kennen, deren rote Lippen »Besame mucho« hauchen; sie gewinnen einen Amateurwettbewerb, sie küssen und sie schlagen sich, finden und verlieren sich wieder: Tränen, Untreue, Eifersucht – die ganz große Liebe. Rita folgt einem reichen Förderer und (Liebhaber) nach New York, wird in die Clubs, nach Hollywood und Las Vegas engagiert, wo sie zum Star Rita La Belle wird und »Love for sale« lernt – eine Art Dorothy Dandridge, die in den 50er Jahren als Farbige Otto Premingers »Carmen Jones« wurde. Bis Rita einen Eklat provoziert, auf der Showbühne die Rassendiskriminierung anprangert und ihre Karriere endet. Chico war ihr nachgereist, hört Charlie Parker im Village und gehört bald selbst zur Band von Dizzy Gillespie, komponiert Hits, nimmt Platten auf, aber wird durch eine Intrige als angeblicher Drogendealer des Landes verwiesen und nach Kuba zurückgeschickt, wo Fidel Castro gerade Revolution macht.
Die Story klingt nicht aufregend, eher nach klassisch altmodischem Melodram, zumal durch einen Traum Chicos Humphrey Bogart geistert (doch anders als in »Casablanca« gibt es ein Happy End). Als Musical und als Animationsfilm aber funktioniert Fernando Truebas und Jawier Mariscals Film wunderbar. Ein verjüngter Buena Vista Social Club, angereichert durch Swing und Bebop, Mambo, Rumba und Conga. Der sound of music gibt den Rhythmus vor; die Bilder – Lichtschneisen, Farben der Nacht, Hafenromantik, Kuba tropicana, New York im Winter und im Glanz seiner Neonreklamen und der plakativ weiche Strich für die Gesichter der Menschen – sind satt, warm und schmelzend. Der Latin-Style lässt den Puls höher gehen, auch wenn die vielen Auszeichnungen der spanischen Produktion, darunter der Europäische Filmpreis und eine Oscar-Nominierung, zwar nahe liegen, aber nicht ganz einleuchten. Emotion ist nicht alles.
»Chico & Rita«; Regie: Fernando Trueba & Jawier Mariscal; Spanien/UK 2010; 93 Min.; Start: 30. August 2012.