TEXT: STEFANIE STADEL
Werbebanner überall, dazu die eigens errichtete Ausstellungshalle. Keine Veranstaltung im Stillen war das, sondern ein echtes Ereignis: Man musste sie gesehen haben, die »Internationale Kunstsausstellung des Sonderbundes Westdeutscher Kunstfreunde« in Köln. Und so machten sich an jenem Freitagmittag im Mai 1912 denn auch allerhand »Damen und Herren der hiesigen Gesellschaftskreise« auf zur Preview. Scharen sollten folgen. Die genaue Zahl der Besucher ist nicht bekannt, aber um die 50.000 werden die Schau in Köln wohl gesehen haben. Ein erstaunliches Ergebnis, damals.
Viele von ihnen ahnten gewiss, wie wichtig, ja wegweisend sie sein würde. Aus der zeitlichen Distanz bewahrheitet sich das Vorgefühl: Inzwischen ist die vielfältige Wirkung belegt und die Sonderbundausstellung als wichtigste Präsentation der europäischen Moderne in Deutschland verbrieft.
Man war in Köln angetreten, die »vielumstrittene Malerei« der Zeit zu promoten. Sie, gegen alle Widerstände, dem breiten Publikum zugänglich und verständlich zu machen. Dazu tischten die Organisatoren eine geballte Ladung Moderne auf: Um die 650 Werke unterschiedlicher Avantgarde-Strömungen – vom Postimpressionismus eines Paul Signac über den Bahnbrecher des Expressionismus Edvard Munch und Pablo Picassos Kubismus bis zur aktuellen Produktion von Brücke und Blauem Reiter.
Was einst die Öffentlichkeit bewegte – manchmal begeisterte, öfter aber erzürnte –, versucht das Kölner Wallraf-Richartz-Museum jetzt, genau 100 Jahre nach der folgenreichen Großoffensive, zu rekonstruieren. Ein wissenschaftlich ambitioniertes, ziemlich rechercheintensives und nicht zuletzt deshalb so verdienstvolles Unternehmen. Denn trotz ihrer unumstritten herausragenden Bedeutung war die Sonderbundausstellung bisher wenig aufgearbeitet. Barbara Schaefer, Kuratorin am Wallraf-Richartz-Museum, hat es immerhin drei Jahre gekostet, herauszufinden, was genau 1912 gezeigt wurde und wo die Stücke heute bewahrt werden. Um anschließend Wesentliches nach Köln holen zu können.
Rund 120 Werke sind zusammengekommen – darunter viele schöne, tolle, wichtige. Noch spannender wird das alles, weil es klar macht, was genau damals auf Künstler, Sammler, Museumsleute wirkte. Was die Öffentlichkeit aufrütteln und im besten Fall hinführen sollte zu den expressiven Experimenten der neuen Malergeneration. Harte Aufklärungsarbeit. Zumal bei einem Publikum, das Realismus, Naturalismus, Salon- und Historienmalerei gewohnt war. Sich am damals bereits durchgesetzten Impressionismus erfreute, in den Werken der Jungen dagegen nichts als »Koloritexzesse und Linientobsuchtsanfälle« sah.
Was stürmte am Aachener Tor auf die Unkundigen ein? Die Retrospektive im Wallraf-Richartz-Museum ist bestrebt, einen möglichst authentischen Eindruck davon zu vermitteln. Zwar zeigt sie nur einen Bruchteil des alten Aufgebots, ein Konzentrat gleichsam. Doch hält man sich in der Gliederung und Gewichtung des Materials eng an das hundert Jahre alte Vorbild.
Dessen didaktischer Impetus war durchaus ein Novum. Mit dem Ziel, den Zeitgenossen zum Durchbruch zu verhelfen, rückte man sie in ihren kunstgeschichtlichen Zusammenhang, stellte sie auf eine seinerzeit zumindest ansatzweise anerkannte Basis. Mit Sorgfalt und Sendungsbewusstsein zeigte die Sonderbundausstellung Entwicklungen auf, um die heftig attackierten Experimente der jüngsten Generation zu legitimieren. Zu sehen waren und sind nun auch im Wallraf-Richartz-Museum etwa Gemälde von Paul Cézanne, der dem Impressionismus etwas »Gefestigteres und Beständigeres« verleihen wollte und vor allem in seinen Landschaften Vorboten des Kubismus erkennen lässt. Dann Pointillistisches von Henri-Edmond Cross und Paul Signac, die in ihrer Tupfen-Technik die Farbe von der Form befreiten.
Ebenfalls vertreten war und ist Paul Gauguin, dessen Südseebilder die deutschen Expressionisten für exotische Themen entflammten – »Auf Tahiti« sieht der Maler die leicht bekleideten Einheimischen am knallgelben Strand lagern. Und natürlich Vincent van Gogh, der Farbe und Pinselstrich zu Ausdrucksträgern macht, deshalb als Vater des Expressionismus gefeiert wird. Mit 130 Werken aus allen Schaffensphasen stand er im Zentrum der Sonderbund-Ausstellung und nimmt nun auch im Wallraf-Richartz-Museum eine herausragende Position ein.
Soweit zur Einleitung. Sie begründet damals und heute den Blick über die um 1912 aktuelle Szene. Heute ist man bestens vertraut mit der Geschichte. Immer wieder ist sie erzählt, sind ihre Protagonisten gefeiert worden. Die gut abgehangenen Klassiker von heute – damals waren sie Rebellen, von denen so gut wie keiner museale Weihen genoss. Umso mehr erstaunt die Treffsicherheit der Sonderbund-Kuratoren von einst.
Klar, manch eine der damals ausgewählten Positionen konnte nicht standhalten, ist aus dem Kanon herausgefallen. Und anderes, was sich später als wichtig erweisen sollte, fehlte in der Sonderbundschau – der italienische Futurismus etwa oder der Orphismus eines Robert Delaunay. Mit Blick auf die jüngsten Tendenzen aber scheint beachtlich, wie viel Maßgebliches damals schon erkannt und in bezeichnenden Werken zur Anschauung gebracht wurde.
Wie vor 100 Jahren ist der Querschnitt durch die Avantgarde auf dem Rundgang über die aktuelle Ausstellung nach Nationen sortiert – allen voran Frankreich mit Werken der Nabis, darunter Maurice Denis’ zuckersüßer Septemberabend mit graziösen Frauen und bonbonrosa Babys am Strand. Gefolgt von den wilden Werken der Fauves, wo starke Farben von dicken dunklen Konturen in Form gehalten werden.
Unter den Ungarn ist József Rippl-Rónai sicher der bekannteste – im Wallraf-Richartz-Museum vertreten mit dem knalligen Entwurf für ein Glasfenster mit nackten Grazien in freier Natur. Er wurde nie ausgeführt, vielleicht weil der Auftraggeber sich die Damen bekleidet gewünscht hätte. Holland konnte in der alten Auswahl nicht recht begeistern, daran ändert sich auch im Abstand eins Jahrhunderts nichts. Umso aufregender die Österreicher mit Egon Schiele, Oskar Kokoschka und ihren radikal verzerrten, verrenkten Menschen. Sie stürben an ihrer eigenen Blutrünstigkeit, bevor man das Ausstellungsgebäude verlassen habe, wetterte ein aufgebrachter Zeitgenosse 1912. Sicher nicht umsonst machte sich der Kölner Stadt-Anzeiger damals ernste Sorgen um die Ausstellungsstücke. Man müsse sie wohl vor Übergriffen schützen, hieß es dort zur Eröffnung – »damit die Tollwut kein Lynchgericht an ihnen vollzieht«.
Die Organisatoren von einst hatten den Krawall heraufbeschworen. Denn es reichte ihnen eben nicht, sich allein von fortschrittlich gesinnten Insidern bejubeln zu lassen. Sie hatten es darauf abgesehen, gerade die in Kunstfragen konservativ denkenden Bürger für das Neue zu gewinnen. Dazu passt die ungewöhnlich professionell aufgezogenen Marketingkampagne – Banner und Postkarten im Einheitsdesign. Ein heimischer Fabrikant brachte gar eigene »Sonderbund-Cigaretten« auf den Markt.
Zur Nobilitierung des Projekts wurde ein mit reichlich regionaler Prominenz besetzter »Ehrenausschuss« etabliert. Noch dazu trat die Stadt selbst als Sponsor auf, wodurch die Ausstellung einen offiziellen Anstrich gewann. Köln fühlte sich wohl als »Vorort der Moderne«. Zu Recht. Denn es gab sicher nicht viele Orte, die das waghalsige Vorhaben willkommen geheißen hätten. Düsseldorf etwa – nicht nur Heimat des Sonderbundes, sondern auch Schauplatz seiner ersten drei Ausstellungen – machte diesmal die Türen des Städtischen Kunstpalastes dicht. So konnte die Rivalin nebenan die Chance ergreifen. Mit Eifer putzte Köln sich als »Bühne für die eigentliche Gegenwart« heraus, um so auch ein Zeichen zu setzen gegen die wirtschaftlich wie kulturell konkurrierende Nachbarin.
Was der Sonderbund hier auf die Beine stellte, war ohne echtes Vorbild, wurde aber in vieler Hinsicht vorbildhaft. Sammler orientierten sich um. Museen richteten ihre Kollektionen neu aus. Die Sonderbundschau wurde zum Prototyp der modernen Kunstausstellungen, die nicht mehr zuerst als Verkaufsveranstaltung versteht, sondern mit didaktischem Ehrgeiz und kunsthistorischem Anspruch Zusammenhängen nachgehen will. Nicht zuletzt hat der deutsche Expressionismus durch die starke Präsenz in der Sonderbundausstellung seinen Platz in der europäischen Kunstgeschichte festigen können.
Kurz vor dem Abbau der Schau am 30. September 1912 sah man den US-Maler Walt Kuhn beeindruckt durch die Säle streifen. Er war ein Abgesandter eben jener amerikanischen Künstlervereinigung, die schon im Jahr darauf, dem Kölner Muster folgend, in New York die berühmte Armory Show ins Leben rief. Und die Geschichte geht noch weiter. Mit der ersten Documenta, die 1955 einen Querschnitt durch die Kunst der Gegenwart zog und sie dabei in einen konkreten Bezug zu Vergangenheit setzte – ganz wie es der Sonderbund vorgemacht hatte.
Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln; bis 30. Dezember 2012; Tel. 0221 / 221 211 19. www.museenkoeln.de