TEXT: ANDREAS WILINK
Die Maschine macht Beute. Doch zunächst muss das metallisch kalt schimmernde Vehikel dafür die Fangschnüre einziehen. Die Seile laufen wie Nervenstränge in einem dreigliedrigen Strebensystem, das an der Bühnenrampe emporragt, als gäbe die stählerne Konstruktion Fingerzeig auf eine unbekannte höhere Ordnung. Knallend lösen sie sich aus ihrer Verankerung und der Befestigung im Fundament, von wo aus sie sich die Wände entlang bis zum Olymp der Bühnentechnik schlängeln. Der gelenkige, hydraulische Apparat wirkt bedrohlich organisch – wie ein Böses denkendes Geschöpf aus der Science fiction-Werkstatt Hollywoods. Nach langem Tun hat der Kran die Seilschaft aufgerollt und krakt sich eine liegende Frau. Hievt sie hoch, lässt sie herab. So geht es hin und her, bis die Mechanik hakt. Der Roboter-Arm holt sich eine zweite Person, schleift sie heran. Dann ist da noch eine dritte Gestalt, die auf eine Rampe und Walze gezoomt wird, die sich fließbandartig in Gang bringt: Ausschussware Mensch – nur noch ein für die Fabrikation taugender Gegenstand.
Chaplins »Modern Times« unter verschärften Bedingungen, nicht gemildert durch den Slapstick, Running Gags und die Komik der Katastrophe. Unser kulturelles Gedächtnis schaltet gleich weiter zu »Metropolis«, darin Fritz Lang das Heer der Arbeits-Ameisen über eine breite Treppe zum Schlund der machine infernale hin dirigiert, die sich in einen gefräßigen Moloch verwandelt. Das Laufband beginnt zu rattern und folgt rhythmisch seinem Takt: anschwellend, stampfend, dröhnend, bescheunigend. Die darauf Liegenden vibrieren haltlos. Es rüttelt sie, als soll eine Sortieranlage etwas aus ihnen herauslösen – womöglich die Seele als Ausweis auf Individualität. Oder, im Gegensinn, als würde ihnen motorisch das Bewegungsmuster eingebläut, das der Schüttelbetrieb auf sie überträgt.
Dies alles ist nur die Ouvertüre in Boris Charmatz’ Choreografie »enfant«, erarbeitet mit dem von ihm kurzerhand zu »Musée de la danse« umgetauften Ensemble des Tanz-Zentrums von Rennes. Vordergründig entwickelt Charmatz eine narrative, in ihrer Anmut, wirkungsmächtigen Wucht und Umdüsterung grandiose Choreografie. Zugleich reflektiert sie darüber, was es mit dem Körper in Spannungsverhältnissen auf sich hat, wie ein artistischer Vorgang zur Machtprobe wird, Herrschaftsanteile sich neu gewichten, Autorität sich verschiebt.
Denn nun atmet die Maschine aus und schaukelt sich langsam zur Ruhe. Kinder werden herein getragen und auf den Raum verteilt, der mit den ausgesäten Leibern einer Walstatt gleicht: Neun Tänzer in schwarzen Hemden und Hosen verhaken und verknoten sich mit den Kleinen, die betäubt und willenlos scheinen. Nehmen sie huckepack, wälzen sich mit ihnen, schlenkern mit ihren schlaffen Gliedmaßen, reichen sie sich weiter wie für einen Produktionsprozess, bilden meistens Zweier-Gruppen und -Formationen, die an Zirkusnummern oder mythologische Figuren und Torturen erinnern: Götter und ihre Objekte, Puppen und ihre Spieler, Täter und Opfer, Aktive und Passive.
Nach einer halben Stunde legt sich über das Ritual der Zurichtung, das sich in tiefem Ernst vollzieht, als folge es einem ferngesteuerten Impuls oder inneren Auftrag, ein nicht eindeutig identifizierbares Geräusch. Zorniges Möwengeschrei? Aus dem animalischen Krächzen hämmert sich allmählich der Sound von Michael Jacksons »Norma Jean« heraus. Wie zuvor die technische Musik der Höllenmaschine, stanzt sich der Song den tanzenden Erziehern ein und setzt die Kinder in Marsch. Das Energetische, Intensive, Manische des Ablaufs steigert sich zur unendlichen Melodie. Die Konzentration und das ekstatische Tun der Neun löst sich in unartikulierten Urlaute, später in einen Madrigal auf, während die Kleinen erstmals mit »Lalala« – somit einem akustischen Signal – sich äußern. Nicht der Körper regt sich, sondern die Stimme: Erwachen des Ichs aus dem melodischen Lallen. Dies ist der entscheidende Moment! Der Seh- ist auch ein Hörraum mit Resonanzboden.
Jetzt wechseln die Rollen – die Struktur bleibt. Die Erwachsenen fallen in zuckende Veitstänze, angetrieben neuerlich von einem diffusen Getön, das pfeift und jault aus dem letzten Loch. Tatsächlich, ein Dudelsackspieler erscheint, dem die Kinder folgen wie dem Rattenfänger von Hameln, einem lockenden Strippenzieher. Sie machen sich aber frei, büxen aus, tanzen aus der Reihe, werden eingefangen, manipulieren die Großen und imitieren die Körperbilder, in denen sie selbst zuvor die Ge- und Behandelten waren. Der Virus ist ansteckend und dem vegetativen Bewusstsein eingeschrieben. Körper-Écriture automatique.
Das Ensemble bildet nun eine einzige pulsierende Körper-skulptur, die nicht unbedingt dem Geist der Solidarität gehorcht. In blindem Taumel und Zappeln wie von Kafka gezüchteter Insekten, werden sie aus der Bahn der Vernunft geworfen. Unbewusst, höchste Lust und Pein. Charmatz gelingt eine große Metapher auf Spiel und Ernst, Freiheit und Bindung, Regel und Anarchie der (Künstler-)Kreatur in ihren subtilen Querverbindungen. Schließlich baumelt der schräge Spielmann samt seinem bauchig lappigen Instrument mit einem Bein am Kran. Ein Mädchen schaut klaren Auges von der Rampe aus in den Saal und uns ins Herz. Wehe!
Auff.: 18. und 19. August 2012, Jahrhunderthalle Bochum. www.ruhrtriennale.de