TEXT: ANDREJ KLAHN
Die Suche nach Namen und einer Zeit, die erst drei Jahrzehnte zurückliegt, aber in ein anderes Jahrtausend fällt, endet vorläufig in Ulis Wohnzimmer. Durch die Gardinen hindurch geht der Blick auf die Steinhammer Straße, während der Hausherr über das mitgebrachte Smartphone wischt und die Fotos betrachtet, die Wilhelm Schürmann hier Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre aufgenommen hat.
Die Idee, mal bei dem 70-jährigen Ureinwohner vorbeizuschauen, hatte Peter Tadeusz, Bruder des im letzten Jahr verstorbenen Beuys-Schülers Norbert Tadeusz und Schürmanns Steinhammer Straße-Freund aus alten Tagen. Denn da ist dieser Mann auf dem Foto, der mit nacktem Oberkörper auf dem Fensterbrett lehnend durch das geöffnete Fenster seiner Wohnung schaut, so dass man meint, von irgendwo her auch die Bundesligakonferenz zu hören, die die Aufnahme akustisch komplettiert. Dieser Dingens, an dessen Namen sich Schürmann und Tadeusz beim besten Willen gerade nicht erinnern können. Und das soll etwas heißen, schließlich hat Tadeusz im Viertel einen Frisiersalon betrieben, ein Knotenpunkt des dicht geflochtenen sozialen Netzes, das die Straße einst überspannte. Auch Tadeusz hat Schürmann damals fotografiert, vor einem Regal mit Shampoo, versonnen an der Kamera vorbeschauend, gestützt auf etwas, das aussieht wie ein umgedrehter Punchingball, scheinbar allein deshalb an die Theke geschraubt, damit sein Besitzer lässig den linken Arm auf ihm ablegen kann.
Als das Bild entstanden ist, wohnte der 1946 geborene Schürmann, den hier alle nur Willy nennen, schon lange nicht mehr bei den Eltern im Haus Nr. 117. Damals hatte Bernhard Blume, der ja auch aus der Ecke kam, angerufen, nachdem er zufällig ein Bild im Kunstforum gesehen hatte, das Schürmann bei einem seiner Verwandtschaftsbesuche in Dortmund aufgenommen hatte. »Hör mal, Willy«, habe Blume gesagt, »so bekloppte Fotos kann nur einer aus Dortmund machen. Mach doch mal Fotos aus der Straße.« Und dann legte Schürmann los, kam zwei Jahre lang immer mal zurück dorthin, wo er aufgewachsen war. Schürmann ging wieder und wieder dieselben Wege, auf den Spuren der eigenen Erinnerung und dem richtigen Licht hinterher, um dann nach einem Jahr systematisch in jedem Haushalt in der Straße anzufragen, ob er Menschen und Wohnungen fotografieren dürfe.
Von den Porträtierten hat er sich erzählen lassen, wie sie seine Eltern erlebt haben, die auf der Steinhammer Straße ein Spiel- und Schreibwarengeschäft betrieben. So hat er erfahren, dass sie auf die Kunden bisweilen arrogant wirkten, auch weil der Vater immer weg wollte von hier. So wie Schürmann 1966 weggezogen war, um in Aachen Chemie zu studieren, historische Fotografien zu sammeln und zusammen mit Rudolf Kicken eine der ersten Fotogalerien in Europa aufzuziehen. Mit dem Unterschied allerdings, dass der Sohn die vermeintlich »billige« Steinhammer Straße immer großartig fand.
Als soziogische Studie war die über 2.000 Schwarzweiß-Aufnahmen umfassende Serie ausdrücklich nicht gedacht, aus der die Photographische Sammlung der SK Stiftung Kultur nun eine von Schürmann getroffene Auswahl von 180 Arbeiten zeigt. Als Kunst aber auch nicht. Die oft gestellte Frage, ob er sich nun als Fotograf oder Künstler sehe, hat Schürmann sowieso nie wirklich interessiert. Wenn er sich fotografisch denn verorten muss, dann in die sachliche Tradition: Hilla und Bernd Becher, letzterer war auch der Sondergutachter für Schürmanns Professur an der Fachhochschule Aachen, an der er bis zum letzten Jahr Freie Fotografie unterrichtete. Aber das Familienalbum einer Straße wollte er eben auch nicht anfertigen. Die Fotos sollten über das Private hinausgehen. »Das ist die Welt, in der ich groß geworden bin. Da kannte ich jeden Grashalm, verstand aber auch, warum der nicht nach links, sondern nach rechts drehte. Das ist die Voraussetzung, um Bilder zu machen, die verdichten, ohne in die sentimentale Folklore abzugleiten.«
»Ist schon lange her, was«, sagt Uli, während er sich die schnell vorbeigeblätterten Bilder ansieht, in denen sich die Zeit ihrer Entstehung geradezu mustergültig zu erkennen gibt. Auch ihn hat Schürmann fotografiert. Genauso wie den Vater mit dem sympathisch-knorrigen Gesicht und dem Schachbrett-Pullunder über dem gestreiften Hemd – ein Bild, das schon im Museum Folkwang zu sehen war. Auf einer Aufnahme ist ein Wählscheibentelefon zu sehen, für das sein Besitzer eigens ein passendes kleines Regalbrett an die Wand geschraubt hat. Andere zeigen die gute Stube als Musterkoffer der 50er bis 70er Jahre: mit wilden Motiven bezogene Sessel und Sofas, um die herum das Grünzeug in den kühnsten Formen blüht, als Kerzenständer, im Heringstöpfchen und in Vasen, auf Tischdecken, auf psychedelisch floral gemusterten Tapeten oder als naive Landschaftsmalerei zwischen schweren Holzrahmen.
Wieder ein anderes zeigt einen Mann, der in sich versunken vor einem Radio sitzt. Er trägt ein Hemd mit einer Art Würfelmotiv, das, als Bernhard Blume es sah, unbedingt auch er hatte haben wollen und später tragen sollte, als ihn Schürmann fotografierte: gemütlich im Sessel installiert, Beine hoch, Augen zu, Hände verschränkt. Die monströs nach schwerem Gerät aussehende Heißmangel, die Schürmann in der Wäscherei abgelichtet hat, hat der Sammler später Konrad Klapheck für dessen Maschinen-Malerei angeboten. Die Steinhammer Straße war ja irgendwie immer auch ein künstlerischer »Hot Spot«, hatte Tadeusz gleich eingangs erklärt. Das sollte kein Witz sein. Wilhelm Schürmann, Bernhard Blume, Norbert Tadeusz, für eine einzige Straße ist das ganz ordentlich.
In Ulis Wohnzimmer sollen die Bilder noch einmal in Bewegung geraten und ihre Geschichten preisgeben, in denen die Kunden in den Laden der Schürmanns kommen, um eine einzige Zigarette zu kaufen, Kinder in Zinkbadewannen gebadet werden, die in der Küche stehen, und das Möpkenbrot 60 Pfennig kostet. Zu einer Zeit, als in den Gärten hinter den Häusern noch Schweine und Hühner gehalten und im Dachstuhl noch Tauben gezüchtet wurden. Kein Anderer konnte das in Dortmund so gut wie Willy Rakowitsch, dessen Taube es von Göteburg nach Dortmund geschafft hat. Zwei Ehrenurkunden bezeugen die Exzellenz auf Schürmanns Aufnahme, zwischen denen der »Sportfreund« Willy Rakowitsch mit verschränkten Armen stoisch dem Blick der Kamera standhält, die schütteren Haare streng zurückgekämmt, oberster Hemdknopf geschlossen, auf der Nase etwas, das heute Nerd-Brille heißt.
Das erste Bild aus der Serie, das Wilhelm Schürmann damals gemacht hat, zeigt ein Gemüsehändler-Paar vor seinem kleinen Laden im Hauptbahnhof, wo man besser nur Früchte mit robuster Schale kaufte, weil es dort vor Mäusen wimmelte. Die Frau habe ihn damals nicht sofort wiedererkannt und dann, als der Mitte 30-Jährige sich ihr vorstellte, gerufen: »Erwin, komma her und gib dem Jungen mal ’n bisken Obst.« »Früher nannte man die Steinhammer Straße den kleinen Westenhellweg«, erinnert sich Schürmann. In Anlehnung an den Dortmunder Westenhellweg, die zentrale Einkaufsstraße der Stadt. Auf rund 500 Metern gab es rund 70 Einzelhändler, die in der Regel die Namen ihrer Besitzer trugen. Fast alle mussten schließen. Die Läden wurden zu Wohnungen umgebaut. Wer genau hinschaut, erkennt heute noch die unter dem Außenwandputz sich abzeichnenden Schaufenster. Auch das Wohnzimmer, in dem sich die Männer gemeinsam Nachhilfe in Sachen Erinnerung erteilen, war mal ein Milchgeschäft, in das die Eltern den jungen Schürmann zum Einkaufen schickten.
Die klassische Erfahrung des Älterwerdenden: dass die Welt von früher später viel winziger erscheint als man sie erinnert, dass sich die weitläufige Kindheit auf ein paar hundert Meter zusammenzieht. Die kennt Wilhelm Schürmann natürlich auch, wenn er in die Steinhammer Straße zurückkehrt. Das Verschwinden der Geschäfte zeichnete sich schon ab, als er zu fotografieren begann. Die Zeche Germania, nur ein paar hundert Meter entfernt, hatte schon Jahre zuvor den Betrieb eingestellt und auch ihr Förderturm war schon demontiert und im Bochumer Bergbaumuseum wieder aufgebaut worden.
Schürmanns Blick für das Zeittypische genauso wie für die Exotik dieser Jahre ließe vermuten, dass er sich dem Umfeld seiner Herkunft entfremdet hatte, als er begann, es mit der Kamera zu archivieren. Doch nicht die Distanz schärft die Wahrnehmung in diesen Bildern. Eher schon das Bewusstsein für das Verschwinden einer Welt, dessen Teil man gewesen ist. Und eben das immunisiert sie auch gegen den Kitsch.
Wilhelm Schürmann. Wegweiser zum Glück. Bilder einer Straße 1979–1981. Bis zum 12. August 2012 in der SK Stiftung Köln. www.photographie-sk-kultur.de