TEXT: GUIDO FISCHER
Cameron Carpenter liebt es, über die Tasten und Pedale der Orgel zu fegen. Auch seinen Hang zu süßlichen Klangströmen kann er an ihr in aller Breite auskosten, besonders in seinen Eigenkompositionen oder in Arrangements von Pop-Hits. Die Orgel, das hört man jedem seiner noch so verwegenen Stücke an, ist Carpenters Herzensinstrument. Wohl auch deshalb hat er von ihr die denkbar schlechteste Meinung. Denn von ihrem Image und ihren spieltechnischen Möglichkeiten her gehört für ihn die traditionelle Orgel in den Fundus. Schon das ehrfurchtsvolle Reden von der Königin der Instrumente kann er nicht mehr hören. Für Carpenter ist die Orgel zunächst eine seelenlose und leblose Maschine. Erst mal in Fahrt gekommen, regt sich der in Pennsylvania geborene 30-Jährige über die unkomfortabel angeordneten Manuale, Registerzüge und Pedale auf. Die Orgel – ein Folterinstrument.
Seit fünf Jahren sorgt der Amerikaner, der elfjährig Johann Sebastian Bachs »Wohltemperiertes Klavier« aufführte und später an der New Yorker Juilliard School studierte, mit seinem unglaublichen virtuosen Spiel und schillernd bunten Repertoire für Aufsehen. Ob nun mit Bach, mit Songs der britischen Sirene Kate Bush oder einer Klang-Hommage an den Schauspiel-Egozentriker Klaus Kinski. Darüber hinaus legte es Cameron Carpenter darauf an, bei seinen Konzerten nicht nur als musikalischer Extremist aufzufallen. In selbst entworfenen Glam-Outfits präsentierte er sich etwa als wandelnde Disco-Kugel, wobei er für seine exquisite Beinarbeit Schuhe für den lateinamerikanischen Tanz trägt, die der Showman mit Swarowski-Steinen beklebt. Nachdem der Paradiesvogel die heilige Orgelfamilie derart verschreckt und den einen oder anderen Kollegen vor den Kopf gestoßen hat, legt Carpenter mit seiner Chuzpe immer heftiger nach. »Eine Orgel ist wie ein Mensch!«, lautet eine seiner jüngsten Provokationen: »Wenn man sie nicht hart trainiert, wird sie fett. Sie wird alt, langsam und dumm.«
Begibt sich hier ein bad boy auf Kreuzzug gegen ein Instrument, das in seiner 800 Jahre währenden Geschichte als Stimme Gottes verstanden wurde und Meister Bach & Co. zu Meisterwerken inspiriert hat? Tatsächlich ist die klassische Pfeifenorgel für Carpenter und damit für einen Musiker des 21. Jahrhunderts ein Auslaufmodell. Obwohl doch gerade er an ihr technische Fähigkeiten bewiesen und dynamische Möglichkeiten gezeigt hat, die man sie zuvor nie erleben konnte, sei es bei sinnlichen Exzessen wie der Orgel-Fassung von Mahlers 5. Symphonie oder bei den Sprinteinlagen in Chopins Revolutionsetüde in Weltrekordzeit. In Russland feierte man ihn enthusiastisch als »Horowitz der Orgel«. Man könnte auch sagen: Was er an der Orgel tut, ist vergleichbar der Bewegung des Tanzes von Fred Astaire hin zu Michael Jackson.
Bei jedem Konzert muss sich der Milchbube Carpenter (jeden Tag mindestens ein Liter Milch) auf ein fremdes Instrument und dessen unberechenbare Macken und Alterserscheinungen einstellen. Das soll nun anders werden. Nachdem er lange von einer Orgel geträumt hat, mit der um die Welt reisen kann wie ein Geiger mit seiner Violine, liegen Konstruktionspläne für dieses Modell nunmehr fertig in der Schublade. Sobald Carpenter Sponsoren für das 750.000-Dollar-Instrument gefunden hat, will er mit seiner digitalen Orgel überall auftreten: in Konzertsälen, in Schulen oder auch in Gefängnissen. Ausgestattet mit Lautsprechern, die sich an einem Teleskop-Arm bis in 16 Meter Höhe ausfahren lassen, würde er den Klang dieser virtuellen Pfeifenorgel perfekt an die räumliche Akustik anpassen. Zwei Exemplare des Hightech-Instruments soll es demnächst geben. Eines würde in Boston, das andere in Berlin stehen, wohin Carpenter nicht nur wegen des kulturellen Angebots gezogen ist.
Bis es so weit sein wird, bleibt ihm nichts übrig, als sich weiterhin mit den jeweiligen Konzertsaal-Orgeln vertraut zu machen. Zumindest die Klais-Orgel in der Kölner Philharmonie kennt er noch vom letzten Jahr, als er im Neujahrskonzert sein Orgelkonzert »Der Skandal« aus der Taufe gehoben hatte. Und weil er weiß, dass nicht nur die Orgel schnell träge wird, wenn man sie nicht fordert, hält er auch bei seinen beiden hiesigen Konzerten an einem festen Ritual fest. Bevor er das Podium betritt, hat der durchtrainierte Fitness-Junkie schon 30 Liegestütze hingelegt.
Cameron Carpenter: 7. Februar 2012 Philharmonie Essen, www.philharmonie-essen.de.
9. Februar 2012 Philharmonie Köln, www.koelner-philharmonie.de