TEXT: ANDREAS WILINK
Unbekannt verzogen. Der Vater ist fort, das Kind allein. Der 11-jährige Cyril (Thomas Doret), bislang von seiner Großmutter betreut, sollte nur vorübergehend in einem Heim untergebracht sein, weil Guy Catoul angeblich etwas Zeit brauchte, um die Dinge neu zu regeln. Der Film der Brüder Dardenne beginnt mit einem Telefonat Cyrils. Die Nummer der Wohnung existiert nicht mehr. Cyril rennt panisch davon, nach Hause, das keines mehr ist und wo ihn der Hausmeister und ein Nachbar brüsk abfertigen, bevor seine Erzieher ihn einfangen und bändigen, während er Zuflucht in den Armen einer jungen Frau, Samantha, sucht, die er umklammert und nicht loslassen will.
Cyril kann sich und anderen nicht eingestehen, dass er verlassen wurde. Er behauptet, die neue Anschrift des Vaters bloß vergessen zu haben, ebenso wenig will er wahr haben, dass der sein Mountainbike zu Geld gemacht hat, lieber hält er es für gestohlen, bevor er dann einen Beweis für den Deal findet. Es sind solche Enttäuschungen, Verletzungen und Zurückweisungen, die Cyril widerspenstig und unzugänglich werden lassen. Muss er sich nicht ganz und gar ungeliebt fühlen? Samantha bringt ihm sein Rad zurück – sie hat es zurück gekauft.
Auf seinen Wunsch hin wird die Friseuse Cyrils Pflegemutter, zumindest an den Wochenenden. Als sie die Adresse des Vaters in Erfahrung gebracht hat, bringt sie Cyril zu ihm. Doch Guy Catoul, der als Koch jobbt, kann nichts mit dem Jungen anfangen, der es ihm doch in seiner Zuneigung so leicht und sich selbst dabei klein macht. Er will nichts von ihm wissen und verbietet sich weiteren Kontakt. Cyril reagiert extrem auf die Ablehnung: mit Gewalt gegen sich selbst und selbstverhängter Isolation. Er wird unbeherrschbar für Samantha und schließt sich einem halbstarken Kriminellen in der Siedlung an, der ihn zu einem Überfall anstiftet. Mit der Beute versucht Cyril in einer letzten Geste des Vaters Sympathie zu gewinnen, bevor er sich besinnt.
»Der Junge mit dem Fahrrad« ist ein weiteres Kapitel innerhalb der ernüchternden Chronik der Fühllosigkeit und familiären Erkaltung – Jean-Pierre und Luc Dardennes belgischer Mentalitätsgeschichte.
Zwischen den realistischen, in ihrer Einfachheit wieder einmal großartig inszenierten Situationen passiert nun aber etwas Unerhörtes. Viermal rauscht der Beginn des zweiten Satzes von Beethovens 5. Klavierkonzert auf, das Adagio. Immer nur ganz kurz. Bevor man sich ihm hingeben kann und der Pianist einsetzt, ist der moment musical schon vorüber. Gerade, dass eine traumverlorene Stimmung im Raume stand, eine Gegenwelt sich auftat, eine Größe über das Soziale hinaus ahnbar wurde, aber auch sich eine biblische Wucht zart ankündigt, die von Verstoßung und Verzweiflung wie von Erbarmen und Gnade kündet. Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit. Cyril und Samantha werden es vielleicht schaffen.
»Der Junge mit dem Fahrrad«; Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne; Darsteller: Thomas Doret, Cécile de France, Jérémie Renier, Egon Di Mateo; Belgien 2010; 87 Min.; Start: 9. Feb. 2012.