TEXT: ANDREAS WILINK
Was für Proust der Duft zarten Madeleine-Gebäcks war, um die Erinnerung aufzurufen, ist bei Michael Ondaatje der Geruch eines brennenden Hanfseils, das als Fidibus zum Anzünden von Zigaretten benutzt wird. Offenbar eine Sitte in Ceylon, das seit 1972 Sri Lanka heißt. Ein elfjähriger Junge schnuppert das spezielle Aroma während der Schiffspassage von seiner Heimat-Insel im Indischen Ozean nach England, wo seine Mutter das Scheidungs- und Einzelkind erwartet, um es aufs Internat zu schicken. Sie reisen zu dritt: Michael, genannt Mynah, und seine Freunde, der autonome Cassius, ein anarchischer Geist, der ein renommierter Maler werden wird und die Ablagerungen des damals Erlebten in seine Bilder überträgt, sowie der umsichtige, herzkranke Ramadhin. Den Bengeln wird mit sechs weiteren Personen der »Katzentisch« angewiesen, weit weg von der Kapitänstafel. »Machtfern« nennt der Autor diese Position, auch künftig der angemessene und bevorzugte Platz Michaels: fremd auf Grund seiner singhalesischen Herkunft im Mutterland England, fremd als werdender Künstler, fremd in der Haut des Mannes, der das Kind in sich nicht vergisst.
Das Trio entert die erste Klasse, treibt Unfug, tut Verbotenes, kundschaftet die Maschinenräume aus, beobachtet die anderen Gäste aus dem »Winkel von 45 Grad«, entsprechend der Perspektive seiner Körpergröße, lüftet Geheimnisse, spürt erste pubertäre Regungen mit Blick auf eine sportive Australierin und Michaels 17-jährige Cousine Emily. Für drei Wochen sind sie frei und unabhängig – wie Mark Twains Huck Finn – und dem Gefühlshaushalt in seinem Wirrwarr von Übermut, unschuldiger Rücksichtslosigkeit, quecksilbriger Aufnahmelust und Einsamkeit überlassen.
Eine kuriose Gesellschaft hat sich an Bord der Oronsay versammelt, die Ondaatje gemäß dem Motto »Es gibt immer eine Geschichte, die einen erwartet« betrachtet. Darunter der musikalisch romantische Mazappa, die mit zwei Dutzend Brieftauben reisende Miss Lasqueti, der ayurvedisch orientierte Botaniker Daniels, ein diebischer Baron, ein von todbringendem Fluch und Tollwut befallener Millionär, ein scheinbar stummer Schneider sowie der von einem englischen Offizier und Kriminalbeamten bewachte Gefangene Niemeyer, der in Ketten nachts ans Promenadendeck gebracht wird, und dessen Tochter Asuntha. Das taube Mädchen wuchs bei Niemeyers Schwester im Zirkus auf – dem Leser stehen Picassos »Saltimbanques« vor Augen – und schwang bis zu einem Unfall selbst als Artistin durch die Lüfte. Gegen Ende der Überfahrt sehen sich die Passagiere mit einem Mord und einem Todessprung ins Meer konfrontiert.
Es bleibt nicht bei der Schilderung der Reise und einer flirrenden Atmosphäre, wie man sie von Kipling und Joseph Conrad kennt. Die 21 Tage auf See bilden einen zeitlichen und örtlichen Zwischenraum, einen rite de passage für Michael, der mit dem Autor in mancherlei Details übereinstimmt, während Ondaatje gleichwohl das Fiktional-Romanhafte betont. Vielleicht gehört es deshalb zu seiner Methode, Informationen, Daten und Angaben sparsam verteilt über die 300 Seiten einzustreuen. Das Unterwegs-Sein vom asiatischen Sehnsuchtsland nach Europa markiert einen Wechsel, der die Identität des Einwanderers Michael, sein Denken, Fühlen und Handeln prägen und seinen Charakter formen soll. Der Knoten, der sich auf der Oransay gebildet hat, lässt sich nicht mehr lösen.
Ondaatjes schöne, immer etwas wehmütige Literatur hat Sinn für das Unfertige. Noch ist sein Michael »nicht zu etwas oder zu jemandem geworden«. Sein Porträt blickt ihn an wie aus einem blinden Spiegel. Als Erwachsener schaut er zurück auf die frühe Lebensreise und weiterhin auf sich als Dreißigjähriger, der zu Ramadhins Begräbnis fährt und eine Zeitlang mit dessen Schwester Massi die Ehe eingeht. Nostalgie würde die Fixierung auf die entscheidende dreiwöchige Episode mehr als unzulänglich kennzeichnen. Die Geschichte durchzieht denn auch sacht das Motiv des Schuldig-Werdens durch Unterlassen, das Ondaatjes »Englischen Patienten« bis aufs Sterbelager begleitet. Im katholischen Katechismus heißt die siebte Todsünde »acedia«, übersetzt: Trägheit des Herzens oder Gleichgültigkeit.
Michael Ondaatje: »Katzentisch«; übersetzt aus dem Englischen von Melanie Walz, Hanser Verlag, München 2012, 301 S., 19,90 Euro.
Lesung am 28. Februar 2012 im Kölnischen Kunstverein