An der Scheibe am Eingang klebt ein Kaninchen. Oder das, was von ihm übrig ist. Das weiße Plüschfell ist zerzaust, die Augen sind unterschiedlich groß und schielen, die Lippen sind grotesk zu einem roten Kussmund geformt. Zudem sieht das Tier aus, als wäre es gerade großzügig überfahren worden. Klare Ansage: Niedlich ist anders. Das »Versuchskaninchen« gehört zu den Puppen von Martin Reinl und seiner »bigSmile-Entertainment GmbH« und war in dieser Form nur einmal im Einsatz – in einem Sketch wurde es von Straßenköter »Wiwaldi« plattgetreten. Seitdem hängt diese Sonderanfertigung an der Scheibe des eingeschossigen Flachbaus in einem Hinterhof in der Kölner Innenstadt.
Der Mann, der immer noch mit Puppen spielt, wird auf der Straße kaum erkannt, obwohl er fast wöchentlich im deutschen Fernsehen unterwegs ist. In der WDR-Sendung »Zimmer frei!«, dem öffentlich-rechtlichen Kindergeburtstag am späten Sonntagabend, steckt er hinter der Couch, bzw. hinter der Puppe des puschelig-aufdringlichen Straßenköters »Wiwaldi«, der die prominenten Gäste in absurde Gespräche verwickelt. Reinl selbst ist höchstens für Sekunden unscharf im Hintergrund zu sehen, während der Abspann läuft.
Besucht man ihn in seinem Hinterhof-Atelier, trifft man auf einen freundlichen, jünger aussehenden Mittdreißiger in schwarzer Kleidung und steht sofort in den Kulissen für die verschiedenen Puppenproduktionen, die teilweise direkt hier vor Ort entstehen. Bauteile einer Straßenszene samt Fototapete stehen neben Scheinwerfern und einem grünen Tuch, das als »Green-Box« verwendet wird. In einer Ecke warten die gepolsterten Rollwagen auf ihren Einsatz, auf denen Reinl und seine Mitspieler während der Aufzeichnung knien. Im Raum nebenan lagern auf Holzständern die Puppen, die Reinl selbst entwirft, baut, spielt und spricht. Sie wirken größer als auf dem Bildschirm und haben ganz klar ein visuelles Vorbild – die Puppen von Jim Henson aus der »Muppet Show«. »Diese Sendung ist ja auch schuld an meinem Leben!«, bestätigt Reinl. Natürlich sind seine Entwürfe keine Kopien, sondern eigene Charaktere; oft mit makabrem Humor, Hang zum Kalauer und eingebauter Meta-Ebene ausgestattet.
Viele seiner Puppen entstanden für »Zimmer frei!« als Mitspieler für »Wiwaldi« – so hetzte Reinl dem Fernsehkoch Steffen Henssler den pöbelnden »blauen Hai« auf den Hals, der zuvor zu lange in Weißwein geschmort wurde und entsprechend angeheitert den Koch von seinen Sangeskünsten überzeugen wollte: »Ich hab jetzt eine Fischplatte rausgebracht und singe Lieder wie: Flunder gibt es immer wieder!« Für die Schauspielerin Rebecca Siemoneit-Barum, die aus einer Zirkusfamilie stammt, entwarf Reinl das legendäre »Alte Zirkuspferd«: ein freundlicher, verwirrter Gaul namens »Horst-Pferdinand« – ja, Kalauer müssen auch mal weh tun –, der sich zwar gerne interessiert in Gespräche einmischt, aber nur noch die Hälfte mitbekommt. Reinls Hang zum Makabren zeigt sich z. B. in seinem »Schießbuden-Teddy« – ein bemitleidenswertes Bärchen mit Gipsarm, Pflaster, halbem Ohr und einem sauber ausgeschossenen Auge, so dass man durch dessen Kopf schauen kann. Besorgte Nachfragen kontert es mit piepsiger Stimme: »Och, das wird schon wieder!«
Trotz der Puppenkonkurrenz von René Marik oder Sascha Grammel war Martin Reinl einer der Ersten in diesem Genre und weiß, wie schwierig es ist, Redakteure von seinen Puppen und Konzepten zu überzeugen. Er selbst musste seinen Weg erst finden. 1996 begann er ein Kommunikationsdesign-Studium an der FH Wiesbaden, merkte aber schnell, dass ihn das »bewegtere Bild« mehr interessiert. Er bewarb sich mit einem ersten Puppen-Film an den entsprechenden Hochschulen, kassierte so- lange Absagen, bis am Ende nur noch die anerkannte »Kunsthochschule für Medien« (KHM) in Köln übrig war, bei der er sich aber trotzdem vorstellte. »Der Ordner mit den Absagen sollte vollständig sein«, grinst Reinl. Er bekam die Zusage für den Studiengang »Audiovisuelle Medien«, währenddessen entwickelte er seine Puppen weiter. Es folgten erste Stand-Ups, dann meldete sich immer öfter das Fernsehen: Für die erste Staffel »Big Brother« entwarf er ein Huhn, und »Zimmer frei!« brauchte für ein Bilderrätsel einige »anspruchsvolle Rollen« – Reinl erweckte daraufhin u.a. eine Küchenrolle zum Leben.
Seit 2002 ist er mit »Wiwaldi« und anderen verhaltensauffälligen Kreaturen fester Bestandteil der Sendung. Das Puppenspiel ist eine Kunst für sich: In gekrümmter Position hinter einem Sofa knien, auf jeder Hand eine Puppe, vor sich ein Monitor mit spiegelverkehrtem Fernsehbild, mit verschiedenen Stimmen mit dem Gast kommunizieren – und das alles gleichzeitig.
»Ist alles eine Frage der Übung«, gibt sich Reinl bescheiden, der von der ersten Idee bis zur fertigen Puppe alles selbst macht. Bis auf die Kleidung – die stammt von einer befreundeten Schneiderin. In seinem Atelier stapeln sich die Stoffrollen und Requisiten- und Materialkisten, die beipielsweise mit »Altbackener Oma-Deko-Kram« beschriftet sind. Elemente wie Augen, Nasen oder Zähne sind flexibel und können mithilfe von Klettband zu immer neuen Gesichtern arrangiert werden. Und dann wäre da noch die »Müllpuppen«-Kiste: »Da kommen immer so angefangene Entwürfe rein. Und wenn ich mal Zeit habe, versuche ich aus den Körperteilen was Neues zu basteln«. Er zeigt eine entsprechende Puppe, ein giftgrünes Monster mit rot geäderten Augen und dürren Armen. »Spannend wird es, wenn ich nicht weiß, wie man was macht« – wenn er Figuren baut, die von der normalen Struktur abweichen. Die sprechende Handtasche für Bruce Darnell war so ein Fall.
Es ist interessant zu sehen, wie schnell Reinl hinter seinen Puppen verschwindet und fast ausgeblendet wird, sobald er beginnt, diese zu spielen. Ein wenig Bewegung und die entsprechende Stimme reichen aus, dass sein Gegenüber mit der Puppe statt mit ihm kommuniziert. Die Sprache ist wichtig – Reinl liebt es, die putzigsten Figuren mit absolut konträren Stimmen auszustatten. Das kleine »Versuchskaninchen« flucht wie ein LKW-Fahrer, und auch die beiden Babys »Ralle und Kalle« durften mit tiefem Raucher-Timbre Oliver Pocher in dessen Late-Night-Show anschnauzen. Zwischen hinreißender Albernheit und ausgeprägter Lust an der Anarchie bewegen sich Reinls Arbeiten – für die Reihe »Haselhörnchen – hier knallt die Ente« (Super RTL) entwickelte er Kreaturen wie die schwerhörigen »Omi und Opi Flönz«, den depressiven »Jammerlappen« (ein beiges Frotteetuch mit Gesicht). Vom Titelhelden »Haselhörnchen« hat er direkt mehrere Exemplare gebaut, weil er die Figur mit großer Lust schon mehrmals in die Luft gejagt hat. Trotzdem beschränken sich die Puppen nicht auf die jeweiligen Formate, sondern tauchen auch an anderer Stelle auf. Bei »Zimmer frei!«, der neuen Puppen-Late-Night »Die Wiwaldi-Show« (WDR) oder in Reinls Impro-Bühnenprogramm »Pfoten hoch!«. Der Mann will nur spielen – und das konsequent. Dafür wildert er gelegentlich in fremdem Revier und erfüllt sich so gleichzeitig einen Kindertraum: Ab diesem Jahr spielt er »Elmo«, das rote Monster in der »Sesamstraße«.
Martin Reinl ist mit »Pfoten hoch!« am 9. Februar 2012 im Gloria Theater, Köln, und am 24./25. Mai 2012 im Haus der Springmaus, Bonn, zu sehen. www.bigsmile.de