TEXT: ULRICH DEUTER
Inge Lohmark ist Lehrerin in Deutschlands östlichster Provinz, Sport und Bio. Um sie herum Pubertätssumpf, Kollegenzwistigkeiten, Eheödnis, Kleinstadtmief. Auch das Auto versagt immer wieder. Den Zumutungen des Lebens begegnet Lohmark mit der Harke ihrer Profession: dem Evolutionsbiologismus. Unter dessen ordnenden Zinken fügt sich unangenehmes Sozialverhalten zu den Mustern genetisch vorbestimmter Reizreaktion, werden die schlaffen Schüler der neunten als »Landwirbeltiere im Wachstum« erkennbar: »Moschus und freigesetzte Pheromone«. Selbst die Liebe verliert, als Verbrämung von Reproduktionsstrategien erkannt, ihre Magie und Unbeherrschbarkeit. Alles wird, alles vergeht, hat seinen Sinn oder eben keinen – »Der Mensch ein flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis.« Dermaßen naturwissenschaftlich abgekühlt ist auch die Familienflucht der einzigen Tochter erträglich; ebenso die Landflucht und Überalterung der Vorpommern, die zur Schließung von Lohmarks Schule führen werden. Es überleben eben nur die Fittesten.
Der knochentrockenen Weltsicht ihrer Protagonistin stellt Autorin Judith Schalanski eine ebensolche Sprache zur Verfügung: im üppigsten Fall parataktisch, sonst ein verbloses Stakkato. Aber auch diese zusammengekniffenen Lippen vermögen der Schönheit der Natur, dem Knospen, Wuchern, Sichverfärben, Ausdruck zu verleihen, Erscheinungen, die Lohmark nüchtern registriert, in Wahrheit aber liebt. Wenn das Eisen ihres Darwinismus auf das Fleisch der sie umgebenden Menschenwelt trifft, klingt es oft komisch, aber öfter noch bitter. Und nebenbei lernt man viel über Biologie. Von den zwei Theorien zum langen Hals der Giraffe aber erfahren wir nur eine: dass dem ein unablässiges Sichstrecken nach der Decke zugrunde lag, dessen Notwendigkeit auch für Menschen die Lehrerin ihren Schülern in endlosen Predigten einzubimsen versucht. Wie das Leben so spielt, wird der Lohmarksche Biologismus vom Gesetz der Evolution ins Abseits geführt. Und Judith Schalanski hat einen wenn auch thematisch schmalen, so doch fast perfekt durchkomponierten kleinen Roman verfasst, dem schon allein seiner enthaltenen Zeichnungen wegen eine ökologische Nische gewiss ist.
Judith Schalansky, »Der Hals der Giraffe. Bildungsroman«. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 222 S., 21,90 Euro.