TEXT: GUIDO FISCHER
Allmählich wird sie einem unheimlich. Für Sol Gabetta scheint es nichts zu geben, was ihr Mühe bereitet. Auf ihrem Cello spielt sie sich unnachahmlich durchs Repertoire, vom Barock über die Klassik zur klassischen Moderne. Nebenbei leitet sie in ihrer schweizerischen Wahl-Heimat erfolgreich ein eigenes Kammermusikfestival. Man darf vermuten, dass die argentinische Cellissima selbst als Sängerin Karriere gemacht hätte, versetzt sie doch immer öfter ihre Stimmbänder in Schwingung, wenn sie sich etwa für das Zugaben-Stück »Dolcissimo« des Letten Peteris Vasks in eine Sirene verwandelt. Nimmt man noch ihre ungekünstelte Ausstrahlung hinzu, erfüllt Sol Gabetta das Idealbild einer Vollblutmusikerin. Sie ist Everybody’s Darling, seit sie vor sieben Jahren den Credit Suisse Group Young Artist Award gewann und mit den Wiener Philharmonikern unter Valery Gergiev auftrat. 23 Jahre jung war Gabetta da. Trotz erster Erfolge, etwa beim ARD-Wettbewerb in München, blieb sie auf dem Boden und hielt sich an ihr Credo, das sie auch ihren Studenten an der Baseler Akademie weitergibt: »Wer richtig gut in seinem Fach sein will, muss nicht nur Geduld haben, sondern auch hart arbeiten.« Ein Satz, der ihre unglamouröse Einstellung belegt.
Die Hälfte ihres Lebens hat die 30-Jährige studiert, u.a. beim Rostropowitsch-Schüler Ivan Monighetti in Basel und bei David Geringas in Berlin. Kein Tag vergeht, an dem sie nicht anhand freudlos trockener Etüden an ihrer Technik feilt. Wer so gut gerüstet ist, kann es mit jedem Werk aufnehmen. In den Cello-Klassikern von Haydn, Tschaikowsky, Saint-Saëns und Schostakowitsch oder in der südamerikanischen Rhapsodie ihres Landsmannes Alberto Ginastera zieht sie die Register von strömender Tonfülle und knisternder Virtuosität. Verleiht schmachtenden Opernarien von Rossini und Offenbach süffigen Salon-Appeal oder kauft im Live-Duell dem Vokal-Akrobaten Bobby McFerrin den Schneid ab. Wie sie ihr viersaitiges Powerpaket bearbeitet, erinnert das an die legendäre Cello-Kollegin Jacqueline du Pré.
Nun gastiert die in Cordoba geborene Tochter französisch-argentinischer Eltern eine Saison lang als Artist in Residence in Essen. Bevor sich Gabetta 2012 ganz der Kammermusik widmet, zusammen mit Mihaela Ursuleasa (Klavier) und Patricia Kopatchinskaja (Violine), steht zunächst die Konzertsolistin im Mittelpunkt. Zum Auftakt bringt sie das selten zu hörende Cello-Konzert des Amerikaners Samuel Barber mit. Beim zweiten Konzert zieht Gabetta auf ihr wertvolles Guadagnini-Cello von 1759 Darmsaiten, um mit ihrer Cappella Gabetta und Bruder Andrés an der Violine das italienische Barockzeitalter historisch korrekt zu durchatmen. Vivaldi darf dabei nicht fehlen.
27 Cello-Konzerte hat Vivaldi für die Mädchen vom venezianischen Waisenhausorchester Ospedale della Pietà komponiert. Doch um die Gesamteinspielung nicht einförmig ausfallen zu lassen, flankiert Gabetta auf ihrem mehrteiligen »Progetto Vivaldi« den Namenspatron mit Zeitgenossen. Dabei führt der Weg über ein fünfsätziges Cello-Konzert des Neapolitaners Leonardo Leo zur CD-Novität von Giovanni Battista Platti mit gewagten expressiven Verdichtungen und geschickten polyphonen Fingerübungen. Weder zu forsch noch übertrieben rasant, achtet Gabetta streng auf den melodiösen Bogen und verlockende Anmut. Spieltechnischer Höchstschwierigkeit stellt sie Empfindsamkeit gegenüber, die das Erzählerische spannungsvoll erhöht. Mit dem »roten Priester« Vivaldi verbindet sich ihr erstes Erfolgserlebnis. Als die Vierjährige in einem Musikkindergarten vorsingen sollte, suchte sie sich nicht ein simples Volkslied aus, sondern büffelte die Vokalfassung eines kompletten Vivaldi-Konzerts. Bei anderen Wunderkindern wäre das eine hübsch erfundene Anekdote. Bei Sol Gabetta mag man die Geschichte sogar glauben.
4. & 18. Dez. 2011; weitere Konzerte: 21. April & 2. Juni 2012; öffentliche Meisterklasse 31. Mai & 1. Juni 2012; Philharmonie. www.philharmonie-essen.de