TEXT: MICHAEL STRUCK-SCHLOEN
Vielleicht ist es nicht gerade die Welt in der Nussschale. Aber eine verblüffende Kompaktheit ist dieser Ein-Zimmer-Wohnung nahe der Kölner Musikhochschule nicht abzusprechen. Die 30 Quadratmeter Grundfläche hat Thomas Witzmann mehrfach aufgefaltet und in die Höhe gestapelt: Durch pfiffig abgemessene und eingepasste Bauteile entstanden ein Ton- und Videostudio samt aufliegendem Schlafraum, ein Kinderzimmer, Stauraum für Drumsets, großzügige Küchenflächen. Die Krönung aber ist eine bewegliche Kleiderstange, die aus einem verborgenen Schacht mit Hilfe eines Flaschenzugs herabgelassen wird und die fälligen Arbeits- und Abendanzüge zur Verfügung stellt. Jacques Tati hätte seine Freude gehabt an der rationalen Klarheit dieser Platz sparenden Nutzungsmaximierung.
Wahrscheinlich haben ausgebildete Schlagzeuger generell ein Händchen für praktischen Eigenbau. Für Thomas Witzmann aber ist seine Kölner Altbauwohnung fast ästhetisches Programm. »Ich fand es immer schon spannender, aus wenig viel zu machen als aus viel wenig«, sagt er und lässt den Kleiderladen per Flaschenzug wieder verschwinden. Schönster Beleg dafür ist, dass ihn der Begriff Flaschenzug schon 1990 zu einer gleichnamigen Komposition inspirierte. Drei Schlagzeuger sitzen da an einem Tisch, machen mit unterschiedlich befüllten Flaschen ihre akustischen Experimente, treiben szenischen Späße inklusive rezitierter Benimmregeln. »Poetisierung des Alltags« nennt das Witzmann. Und wer würde ernsthaft die poetischen Qualitäten gefüllter Flaschen bestreiten?
Für Witzmann bedeutet die Konzentration aufs Kleine und seine Klänge auch einen Widerstand gegen eine Elefantiasis der Mittel, wie sie in der zeitgenössische Musik nicht selten ist. Und so fand er an Stelle der festival-notorischen Materialschlachten für Riesen-Rundfunk-Sinfonieorchester eines Tages für sich eine eigene Lösung. »Entwickelt hat sich das 1989 mit meinem Soloprogramm ›das minimum‹. Damals habe ich relativ viel neue Musik gespielt und war oft genervt vom tierischen Aufwand, den Komponisten mit dem Schlagzeug trieben. Du baust drei Stunden deine Instrumente auf, für ein Konzert von zehn Minuten. Dann haust du auf jedes Ding einmal drauf und packst wieder drei Stunden ein. Man kennt diese zirzensischen Nummern, bei dem die pure Verwendung des Instruments schon als geniale Musik gilt. Aber ich dachte, es müsste auch anders gehen.« Für »das minimum« genügte ihm dann ein Tisch, auf dem der Komponist und Interpret in Personalunion aus minimalem Aufwand maximale Wirkung zieht – ein 45-minütiges »Ein-Mann-Musiktheater«, das den Hörer nicht erschlägt, sondern zum Zuhören zwingt. Und niemand, der »Flaschenzug« oder »das minimum« erlebt hat, wird nachher einen gedeckten Esstisch nur noch als Ort der Nahrungsaufnahme ansehen.
Dabei waren Witzmanns Experimente Ende der 80er Jahre keineswegs singulär, sondern lagen sozusagen in der »Kölner Luft«. 1980 hatte es den aus Coburg stammende Musiker an die Kölner Musikhochschule verschlagen, wo er in den Schlagzeugklassen von Peter Giger und Christoph Caskel, der Muse des modernen Schlagzeugs, das Handwerk erlernte. Während er sich als Schlagzeuger bald auf Bühnenmusik im Theater und die Interpretation zeitgenössischer Musik spezialisierte, blieb Witzmann als Komponist Autodidakt. Einflüsse sind jedoch zumal in seinen szenischen Musikprojekten deutlich auszumachen. Das absurde Theater von György Ligetis »Aventures« gehört dazu, vor allem aber die Klasse für neues Musiktheater, die Mauricio Kagel seit 1974 an der Kölner Musikhochschule leitete. Kagels Sinn für groteske Zuspitzungen und kafkaeske Doppelbödigkeit, sein Pochen auf theatralische Präzision und perfekte Durchführung der Projekte übertrug sich auf Schüler wie Manos Tsangaris, Carola Bauckholt oder Chris Newman, aber auch auf Interpreten wie Thomas Witzmann. »Die Atmosphäre an der Kölner Hochschule ließ den Aufbruchsgeist der 50er und 60er Jahre noch einmal wie im Nachhall spüren. Es war für mich unglaublich spannend, wie in der Kagel-Klasse ein Stück allmählich zusammen mit den Musikern entstand – oft ohne den genauen Ausgang zu kennen. Dieser Prozess der Entstehung ist für mich heute noch entscheidend.«
Selten hat sich Witzmann deshalb in seinen Musiktheater-Stücken auf bestehende Texte oder gar ein »Libretto« verlassen (eine Ausnahme machte »wolkenstein. mobilisierun’« auf Texte des jüngst verstorbenen Thomas Kling). Stets aber ist – und das unterscheidet ihn von Kagels Ästhetik – die Einzigartigkeit des Raumes der Maßstab für das Konzept eines neuen Werks. Vor allem der öffentliche Raum ist Witzmann ein Lieblingsobjekt szenischer Verfremdung und Entblätterung: eine Treppe im Kölner Museum Ludwig (»zwischen-stufen«, 1994), das Entree des Dortmunder Rathauses (»mobile hausmusik«, 1995) oder die Kölner Philharmonie, wo er die klassische Zweifronten-Situation des Konzerts in der »Szenischen Musik« »unter tage« (1998) aufbricht, indem er die Musiker im Publikum postiert und die Bühne nur dem Dirigenten und einem wild gewordenen »Akteur« überlässt. »Die meisten meiner Stücke haben diesen räumlichen Aspekt und knüpfen eine enge Beziehung zwischen Architektur und Musik. Dadurch werden sie nicht beliebig reproduzierbar, sondern einzigartig in ihrem jeweiligen Setting.«
Auf diese Einzigartigkeit im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit setzt in diesem Juni auch das traditionsreiche Festival »Ensemblia« in Mönchengladbach, das Witzmann zum Composer in residence erkor. Neben dem älteren Stück »Dreiecksverhältnis«, das eine Geige und ein Cello in ein mathematisches, szenisches und (zumindest virtuell) erotisches Verhältnis zu einer Flöte setzt, ist die Uraufführung einer szenischen Performance mit dem Titel »ausgepackt« zu sehen. Vielleicht in Erinnerung an frühkindliche Nikolausfeiern, vielleicht auch im Bewusstsein, dass der wahre Künstler stets heimatlos und auf Reisen ist, wird Witzmann mitten im Museum Abteiberg seine Reisetasche auspacken, die befreiten Gegenstände zum Klingen bringen und Solisten der Niederrheinischen Sinfoniker zu Reaktionen anregen.
Brisanter als dieses launige Concerto für Taschenkünstler und Ensemble könnte eine weitere szenische Aktion werden, deren Titel »Bank-Geheimnis« vielleicht wörtlicher zu nehmen ist, als es den Gastgebern – der Mönchengladbacher Filiale der Deutschen Bank – lieb ist. Denn diesmal hat Witzmann nicht nur die Architektur des Geldinstituts am Bismarckplatz studiert und eine Dramaturgie entwickelt, bei der das Publikum in Gruppen durch Foyer und Schalterhalle geschleust und bespielt wird. Das Geld an sich, sein archaischer Nimbus und seine fatale Wirkung auf das Ungleichgewicht der wirtschaftlichen und sozialen Kräfte in der Welt – all das will Witzmann im Zusammenwirken von Musikern, Schauspielerinnen und Videos thematisieren. »Der Titel ›Bank-Geheimnis‹ erinnert nicht zufällig an Beichtgeheimnis. Denn normalerweise sucht man eine Bank aus zwei Gründen auf: Entweder hat man zu viel Geld und weiß nicht, was man damit machen soll – oder man hat zu wenig. Beides ist aber gleich peinlich.« Flotte Slogans, die Witzmann bei seiner Aktion zitieren lässt, sollen der Peinlichkeit den Anstrich eines zukunftsorientierten, sozial verantwortlichen Optimismus geben. Doch der Komponist selbst weiß aus eigener Erfahrung, wie das Geld intakte persönliche Verhältnisse sprengen kann – vor allem, wenn es in dicken Batzen über einen kommt. Schließlich machte das Millionenerbe seiner Exfrau am Ende nur einen glücklich: die Bank.
So spielen autobiografische Momente in Witzmanns musikalische Welt, ohne die Konzepte anekdotisch zu verwässern. Im »Bank-Geheimnis« aber (Untertitel: »ein musiktheatralischer Überfall«) könnte Witzmanns Aktionskunst erstmals einen engagierten Zug bekommen: »Ich glaube, es kriegt schon eine politische Dimension.«
Stücke von Thomas Witzmann bei der »Ensemblia« Mönchengladbach. 2. Juni 2005: »Dreiecksverhältnis« (Ensemble Modern) / 10. Juni 2005: »Bank-Geheimnis« / 11. Juni 2005: »ausgepackt« (UA, Niederrheinische Sinfoniker) www.ensemblia.de