TEXT: ULRICH DEUTER
Mutig ist es auf jeden Fall. Denn die Stadt ist klein, liegt hinter den Bergen, ist als Kunststadt bisher namenlos. Außerdem gibt es, sagt Bürgermeister Bruno Wollbrink (SPD), unter den Einwohnern Akzeptanzprobleme mit dem neuen Museum – MARTa heißt es, Herford die Stadt, Frank O. Gehry der Architekt, Jan Hoet der Museumsleiter. Vier Namen, die Synonyme sind für die Verwegenheit, der hier zu Werke ist, denn sie bedeuten Weltwind, der in ein Landstädtchen weht. Die Luft bewegt sich: MARTa, Nordrhein-Westfalens neuestes Kunstmuseum, ist fertig gestellt, seine erste Ausstellung eröffnet.
Von Herford, nordöstlich Bielefelds, ist es mental weit bis Kassel, wo der umtriebige Belgier Jan Hoet 1992 die documenta 9 leitete. Der kalifornische Star-Architekt Gehry aber war in Ostwestfalen bekannt. Im Herford benachbarten Bad Oeynhausen baute der 1929 in Kanada geborene Pritzker-Preisträger 1995 ein Geschäftshaus und 2001 ein Therapiezentrum (dazwischen entstand 1999 eine Gebäude-Trias im Düsseldorfer Medienhafen). Doch dem lagen private Initiativen und Finanzierungen zugrunde, in Herford aber ging und geht es um eine Institution, die mit Steuern bezahlt und mit der die Stadt selbst sich identifizieren wollte und identifiziert werden würde. Um ein völlig neues Museum.
Grund der Erregung in der 65.000-Einwohner-Stadt war der vielen verrückt vorkommende Entwurf Gehrys, waren die von zunächst 15 auf zuletzt knapp 29 Millionen Euro anschwellenden Baukosten, war eine angeblich Gewalt verherrlichende MARTa-Vorab-Ausstellung 2002, war alles in allem eine Entwicklung, die, für jeden in der Möbelstadt Herford erkennbar, wegführte vom ursprünglich ins Auge gefassten »Haus des Möbels« hinab ins finanziell und kulturpolitisch Abgründige.
Das Riskante haben die Herforder nun, darum sind sie zu beneiden – Gehry und Hoet haben es gewollt, der vormalige Bürgermeister Thomas Gabriel (CDU) hat es zumindest geduldet. Dafür verlor er bei der letzten Kommunalwahl sein Amt. Jetzt steht MARTa da, kein Haus des Möbels, ein Haus der Kunst; hunderttausend Neugierige sowie die halbe internationale Kunstwelt werden kommen. Der Erfolg kennt viele Väter, neben dem neuen Bürgermeister auch Bundesminister Wolfgang Clement, der 1996 als NRW-Ministerpräsident das ursprünglich intendierte möbelindustrielle Synergiezentrum in der Poggenpohl-Stadt angeregt hatte. Die wahren Erzeuger des dann so ganz anders gearteten Kindes sind, neben dem Architekten und seinem ausführenden Kollegen Hartwig Rullkötter, die mutige Stadt Herford (mit 11,6 Mio. Euro Baukostenbeitrag), das Land NRW (9,7 Mio.), der Landkreis (3 Mio.) sowie Sponsoren der ansässigen Wirtschaft (4,5 Mio.); den laufenden Unterhalt zahlt eine Betreibergesellschaft, die, nach dem Modell Public Private Partnership, von der örtlichen Industrie sowie, knapp mehrheitlich, von der Stadt Herford getragen wird. Letztere finanziert auch den Ausstellungsbetrieb mit jährlich 1,5 Millionen Euro, das darüber hinaus Nötige (Hoet spricht von gut einer Million) soll durch Eintritte und Verpachtungen erwirtschaftet werden.
Soweit das Vorab und Drumherum. Was aber ist MARTa? Von außen gesehen ein weiterer der für Gehry so typischen Haufenbauten: Da ragt ein Ellipsoid schräg in die Höhe, gleich kommt ihm ein Zylindroid in die Quere, beide sitzen auf einem wie unter Druck aufquellenden Quader auf, wo sich blattartig geschwungene Dächer wie Krägen abspreizen. Ein Dach im eigentlichen Sinne existiert nicht, nur wiederum verspielte Abschlüsse von vielfältig gekrümmten, namenlosen Raumkörpern. Es gibt jede Linie, nur keine gerade, jeden Winkel, nur keinen rechten. Gewaltige Hutschachteln scheinen auf- und ineinander gestürzt, statt des Prinzips von Stütze und Last zeigt sich das von Einsturz und Aufwuchs.
Und dennoch wirkt MARTa nicht monumental, steht nicht einmal als Fremdkörper zwischen den braven Walmdachhäusern rechts und links. Dies liegt nur zum Teil an der Verkleidung des Stahlbetonkörpers durch regional-typische gelb-rötliche Klinker, deren äußerst exakte Form und Verfugung dem wilden Bau einen Hauch Biederkeit verleihen. (Also kein Vergleich zu Gehrys Opus maximum, dem Guggenheim-Museum Bilbao mit seiner spitzigen, fischigen Titanblechverkleidung!) Dies liegt auch an der Leichtigkeit, die 38.000 Kubikmeter umbauter Raum annehmen können, wenn sie derart ins Hüpfen gebracht werden. Es ist schon komisch: Diese antibürgerliche architektonische Unbekümmertheit liegt mitten in einer behäbig-beliebigen Straße, deren Mittelstreifen jetzt allerdings ein Rilke-Gedicht (»Der Ball« in metallenen Riesenbuchstaben) trägt.
Der Eingangsbereich ist unübersehbar – wie einem weit größeren Gebäude zugehörig. Hier kommt die baukörperliche Erregung zur Ruhe, die Massen treten auseinander und geben einen tiefen Vorplatz frei, auf dem riesige, aus Stahlblech ausgestanzte Buchstaben von der Höhe herab »MARTa Herford« rufen. Mit einmal ist doch Monumentalität zu spüren – mit dieser Empfindung eintretend, wird man wieder überrascht: enttäuscht über die sofort waltende Enge. Man erwartet eine Empfangshalle, steht jedoch in einem Gang und blickt auf eine hohe, holzverkleidete Wand, vor der es nur nach rechts und links und unter der es nur wie mit eingezogenem Kopf geradeaus weiter geht. Der Grund: Im Innern des kristallin-kubistisch-florealen Gehry-Baus steckt eine schlichte Schachtel, eine ehemalige Produktionsstätte aus den 1950er Jahren, deren Front, wahrscheinlich aus konstruktiven Gründen, nicht aufzubrechen war; nun sind hier Garderoben usw. untergebracht und residieren die Museumsverwaltung sowie Fachverbände der Holzwirtschaft.
Die Hauptausstellungsräume im Erdgeschoss, zu denen man scharf rechts zurück abbiegt, machen die kurzfristige Enge rasch wett, sie sind allesamt von mittlerer Größe, jedoch sehr hoch, bis zu 22 Meter. Sind fensterlos, jedoch in Oberlichter auslaufend wie in Turmlaternen. Der größte Raum ist von rechteckigem Grundriss, die anderen fünf besitzen geschwungene Wände, was manche Kunstwerke (groß, plan) aufzuhängen unmöglich machen wird. Zudem wird der Blick in jedem Saal von den Werken weg in die Höhe gezogen, dorthin, wo der Raum zu wirbeln beginnt – ein Eindruck, als befinde man sich im Innern einer Dubuffet-Skulptur. Insgesamt stehen dem Museum, zusammen mit dem Veranstaltungs-»Forum« und einem »klassischen Ausstellungsraum« im Obergeschoss, 2.500 Quadratmeter Ausstellungsfläche zur Verfügung; einen Teil davon nimmt eine Sammlung in Anspruch (200 Werke von Beckmann bis Richter), die der Verleger Karl Kerber dem Haus für zehn Jahre ausgeliehen hat. Die Planungszeit von MARTa betrug drei, die Bauzeit vier Jahre, bautechnischer Probleme wegen ein halbes Jahr länger als geplant (siehe auch K.WEST 3.2005).
MARTa ist nicht nur als Gebäude ein Haus der Widersprüche. Wie bekannt wird die Kunst (»ART«) in der Namensmitte von einem »M« für Möbel und einem »a« für Ambiente eingerahmt; nach wie vor ist MARTa als Museum der Synergie zwischen Kunst und Design gedacht. Die erste Ausstellung aber ist geradezu dem Gegengedanken verpflichtet, sie ist vollkommen subjektiv und verweigert sich jedem Gebrauchszweck. Jan Hoet zeigt »(my private) Heroes«: Unter den Helden des 1936 geborenen Leuveners finden sich seiner Großmutter Schnupftabakdosensammlung sowie einige ihm liebe Künstler, aber kein Stuhl, kein Teeservice. Also kein Design. Dies sei seine Eröffnungs-, aber auch eine Abschiedsvorstellung, begründet Hoet den Widerspruch: die letzte Schau dieser Art. Dann sollen sich Ausstellungen anschließen, die dem Bauhaus-Gedanken folgen und Kunst mit Funktion verbinden. Ob Hoet, der stets einem radikal subjektiven, schweifenden Kunstbegriff huldigte, dafür der richtige Mann ist? Ob er nicht vielmehr heimlich aber zielstrebig Clements Möbelhaus unterminieren will? Im andern Fall aber sollte eine andere Symbiose herauskommen als die übliche Parallelisierung des Formalen, wenn ein Breuer-Sessel unter einem Kandinsky-Bild steht. Für 2006 ist eine große Designausstellung geplant, die, so verspricht uns die Museumsleitung, »neue Möbelentwürfe in der Region nach sich ziehen« wird.
Erst einmal zieht Hoet uns in sein höchst privates Pandämonium. Im größten Saal, »Dom« genannt, finden sich Andy Warhols Siebdrucke »Marilyn Monroe« und »Joseph Beuys«, ein Selbstporträt von Anselm Kiefer, eine Fotoinstallation von Rudolf Herz – alles, wenn man so will, heroische Sujets und Posen. Mitten im Saal aber steht eine intime blaue Koje, in der sich eine Handstudie von Rodin, eine Wanneninstallation von David Hammons, ein Gemälde von Francis Bacon, eine zarte Arbeit von Mario Merz befinden. Zudem eine Vitrine mit den erwähnten Tabakdosen sowie ein kleines Bild von Marlène Dumas von 1992, das angeblich den kleinen Jan zeigt – »(my private) Heroes« meint kollektive Helden, aber auch Hoets private Lieblinge, meint ihn selbst. Mal mischen sich beide Gesichtspunkte, mal bleiben sie völlig unverbunden.
Vier Themenbereiche gliedern die Ausstellung; einer heißt »Der Held als Verletzter«. Wer will, erkennt dies, wenn da nämlich in einem Raum Objekte versammelt sind, die irgendwie Wunden zeigen: eine von Lucio Fontanas aufgeschlitzten Leinwänden, Andrea Serranos Großfoto einer Fußwunde. Aber dies sind zugleich auch Ikonen des Vaginalen – so flottieren die Begriffe. Marcel Broodthaers Zerrspiegel von 1973, ein Held? Was bestehen bleibt, ist eine Schau, die manchmal gelungene Kombinationen alter Bekannter oder neuer Unbekannter zeigt; manchmal anekdotisch vom einen zum andern hüpft. Picasso hat einen Ritter gezeichnet, Corinth einen gemalt. Tja. Der Begriff Held hat einen großen Magen. Herford aber wird die Lippen verschließen, wenn Bella MARTa nicht ständig Gerichte kocht, die einerseits Haute Cuisine sind, andererseits auch nach Hausmannskost schmecken. Eine kleine Stadt wird nicht so schnell zur Kunstmetropole. Das wird Jan Hoets Problem werden. Hoffentlich nicht so bald.
Tel.: 05221/994430-0. www.marta-herford.de. Katalog der Ausstellung (bis 14.8.2005) 35 Euro