TEXT: KATJA BEHRENS
Als Resultat kümmert mich die Kunst am Ende wenig. Interessant ist, wenn die Person hinterher in einer freieren Weise leben kann, wenn sie sich mit dem Körper besser ausdrücken kann, besser lieben und besser essen kann. – So ungefähr formulierte es Lygia Clark. Die brasilianische Künstlerin (1920-1988), die ihre Kunst seit den mittleren 60er Jahren jenseits der rein ästhetischen Zusammenhänge ansiedelte, entwickelte Brillen, Masken und Körperhüllen, die die Kunsterfahrung in ein physisches Erlebnis transformieren sollten: Warum nicht mit der Kunst das Leben oder wenigstens die sensorische Wahrnehmung verändern? Ihre frühen, sozusagen anziehbaren Arbeiten »Straight Jacket« (1969) und »The house is the body. Penetration, ovulation, germination, expulsion« (1968) sind jetzt in Düsseldorf ausgestellt, können aber leider nicht ausprobiert werden. Doch schon in der bloßen Vorstellung entfaltet Lygia Clarks Zwangsjacke von 1969 Beklemmung.
Vier Leute stehen auf einem großen Brett herum, suchen Halt aneinander, der Boden neigt sich bedrohlich. Wird sie von mehreren Personen gleichzeitig benutzt, ist die große Holzwippe, die Robert Morris 1971 entwickelt hat, fast eine Art Gesellschaftsmodell: Gemeinsam ist die Balance möglich. Nur im Miteinander gibt es Stabilität. William Forsythes Installation »The Fact of Matter« hingegen ist ein »choreographisches Objekt« neuerer Zeit: der Künstler hängt in unterschiedlichen Höhen Ringe auf, die Besucher können sie kletternd durchqueren, entscheiden aber jeweils selbst über ihren Weg. Zu große Nähe ist eher störend. 2009 sind es die individuelle Stärke und Ausdauer, die den Fortgang des Experiments bestimmen. Die Zeiten haben sich geändert, mit ihnen die Kunst.
Längst schon hängt oder steht die Kunst nicht mehr bloß ernst und stumm herum, sie bewegt sich und lädt zum Mittun ein. Bildende Kunst, Tanz und Choreografie, ihre gemeinsame Geschichte und die Wechselwirkungen sind Thema der großen Schau in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf: »Move – Kunst und Tanz seit den 60ern«. Hier wird das Publikum aufgefordert, sich zu beteiligen, das Kunstwerk zu vollenden und Teil der Kunst zu werden, sich zu bewegen, zu tanzen, zu balancieren, Hula-Hoop-Reifen zu schwingen, in Seilen zu hängen, Kopfstand zu machen oder seinem Ärger Luft. Was wie gymnastische Übungen daher kommt, ist indes in einem weiteren historischen, ästhetischen, konzeptuellen Kontext verankert.
»Ohne Ekstase kein Tanz!«, hatte die berühmte Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin Mary Wigman (1886-1973) einst proklamiert. Als Ikone des deutschen Ausdruckstanzes gehörte sie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu den Wegbereitern der Reformbewegung, die »zur individuellen Ausdruckskraft« ermutigten und »die natürliche Bewegungsvielfalt des Körpers als Grundlage des freien Tanzes« propagierten. Die Lebensreformbewegung, die um 1900 etwa im Schweizerischen Ascona und anderswo blühte, sollte weit ins 20. Jahrhundert ausstrahlen. Der Tanz hatte sich von dem strengen Reglement und den ästhetischen Dogmen der Tradition befreit.
Merce Cunningham, der lange Zeit mit dem Komponisten John Cage zusammenarbeitete, war wohl einer der erfolgreichsten Choreografen und Tänzer der neuen Zeit. Ähnlich wie Pina Bausch oder Martha Graham hat er den Tanz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert auf unnachahmliche Weise geprägt. Zu den großen Namen des neuen Tanzes gehören neben Mary Wigman und Isadora Duncan, die in Kostüm und Bewegung die Antike heraufbeschwor, Loie Fuller und Gret Palucca. Die theatralischen Inszenierungen des Fotografen Edward Steichen machten Isadora Duncan zur Ikone einer ganzen Epoche.
Auch vielen bildenden Künstlern war in den Anfangsjahren der neue Tanz ein Bildmotiv geworden. Tänzerinnen werden mit Schwung auf die Leinwand, in schnellen Strichen aufs Papier geworfen. Unmittelbarkeit war jetzt die gemeinsame Grundlage von Tanz und Kunst. Das Subjektive, das Erlebte, die unwiederbringlichen Momente des Tanzes sollten festgehalten und malerisch verdichtet werden.
Bald indes ist der Tanz nicht mehr nur Motiv, sondern Teil einer Interaktion. Die Kunst selbst gerät in Bewegung, Genres und Gattungen mischen sich: Dadaistische Soireen benutzen Sprache, Mimik, Gestik, Tanz, Masken und Kostüme für ihre Performances, die auch die Zuschauer zu Akteuren machen. Die Kunst öffnet sich dem Publikum. In Zürich, Dresden, am Bauhaus in Weimar, in Paris, New York und Rio … überall entstehen Zentren eines neuen, Grenzen überschreitenden Kunstverständnisses. Sophie Taeuber-Arp etwa überführte ihre gegenstandslosen Bilder in Tanzperformances, der Bauhaus-Künstler Oskar Schlemmer tanzte selbst in dem von ihm erdachten und choreografierten »Triadischen Ballett«, das 1922 seine Uraufführung hatte.
Dann, Ende der 50er Jahre, ist die tänzerische Ekstase erneut Thema der Kunst. Diesmal sind es Künstler wie Jackson Pollock, die ihre Bilder in einem Zustand äußerster Anspannung, wie in einem rauschhaften Ballett tanzend, malen. Die Kunst, die nun entsteht, trägt das Ereignis ihrer Entstehung in sich. Das Konzept des genialischen Künstlersubjekts, dessen stürmische Kreativität sich in der Performance Bahn bricht, wird indes bald wieder zur Disposition gestellt. Minimal- und Konzeptkunst setzen andere Schwerpunkte. Das Genie hat ausgedient, Raum und Bewegung im Raum sind jetzt ein zentrales Motiv der bildenden Kunst. Alsbald vermischen sich die Gattungen erneut.
1959 erfindet Allan Kaprow den Namen für die neue Kunstform mit Zuschauerbeteiligung: Happening. Raum, Materialien, Zeit und die Zuschauer sind nun Teil eines Werkes, das sich erst in seiner Aufführung vollendet. Zusammen mit George Maciunas, George Brecht und Al Hansen hatte Kaprow um 1960 erste ereignishafte Kunstevents in New York veranstaltet, in die er die Betrachter einbezog, indem er sie sich nach bestimmten Angaben bewegen und agieren ließ. In den USA sind es dann Künstler wie Robert Morris, Dan Graham, Trisha Brown und andere, die mit ihren Skulpturen und Rauminstallationen die Kunstbühne erweitern.
Zeitgleich wird die neue Freiheit mit Performance, Happening und verwandten Kunstformen auch in Europa und Südamerika weitergetrieben. Jetzt helfen Künstler wie Joseph Beuys, Wolf Vostell, die Fluxus-Gruppe und die Wiener Aktionisten dem Publikum auf die Sprünge. Hélio Oiticica, vom Samba fasziniert, hat gar das Konzept des Tanzes auf das Leben übertragen.
In der Düsseldorfer Ausstellung (von der Londoner Hayward Gallery in Zusammenarbeit mit der Kunstsammlung NRW organisiert) werden nun die im New York der 60er Jahre entstandenen Konzepte der künstlerischen Annäherung von darstellender und bildender Kunst wiederbelebt. In einem interaktiven Archiv, das im Foyer von K20 und im Schmela Haus auch ohne Eintrittskarte zugänglich ist, lassen sich über 170 historische Aufnahmen (Merce Cunningham, Allan Kaprow, Yvonne Rainer, Meg Stuart, Kazuo Shiraga, Sasha Walz u.v.a.) finden – eine wahre Schatztruhe der Kunst- und Tanzgeschichte der letzten 50 Jahre.
Trisha Browns eindrucksvolle Arbeit »Floor of the Forest« steht etwas verloren im Amerikaner-Saal, in der ein Tänzer versucht, sich mit den in einem Netz verknüpften Kleidungsstücken an- und wieder auszukleiden: Eine der markanten Positionen, denen es um 1970 darum ging, Tanz in die Alltagswelt zu bringen. Oder Franz Erhard Walthers »1. Werksatz (1963-69)«, bestehend aus 58 Stoffelementen: sie liegen fein säuberlich gefaltet auf dem Boden. Erst wenn Betrachter zu Benutzern werden, ist das Werk überhaupt erkennbar und vollendet sich.
Einige andere Objekte und Geräte aber sind jüngeren und jüngsten Datums. Christian Jankowskis »Rooftop Routine« (2008) ist eine fröhliche Hommage an ein Hula-Hoop Dachstück, das Trisha Brown 1973 über den Dächern von Manhattan hat realisieren lassen. Herausragend Isaac Juliens große Filminstallation »Ten Thousand Waves« von 2010, deren drei verwobene Erzählungen sich im Raum und in der Zeit hin und her bewegen. Auch der Zuschauer muss zwischen den hängenden Leinwänden umhergehen, wird aber dennoch feststellen, dass er nie das Gesamt der Narrationen erfassen kann. Ein wunderbares Werk, das natürlich auch physisch wirkt. Andere Arbeiten sind allerdings weniger inspirierend. Am Ende ist indessen klar: Als historisches Phänomen des 20. Jahrhunderts ist »Tanz und Kunst« auf jeden Fall nicht nur packend, sondern auch amüsant.
Move – Kunst und Tanz seit den 60ern, bis 25. Sept. 2011. Katalog 32 Euro; umfangreiches Begleitprogramm. Tel.: 0211/8381-130. www.kunstsammlung.de