TEXT: GUIDO FISCHER
Geheimnisvolles Schnattern, Winseln und Seufzen: So hatte man das Hilliard Ensemble noch nicht gehört. Das aus Stimmwunder-knaben bestehende Gesangsquartett war bis 1994 vorrangig auf zeitlos pure Klangschönheit abonniert. Nun zeigten sie sich von einer anderen Seite, in einer abgedunkelten Klangszene, in der merkwürdige Geräuschschatten atemlos ihr Unwesen trieben. »Un coup de dés« hatte Barry Guy seine Mallarmé-Vertonung genannt, mit der er sich beim erstmals ausgeschriebenen Hilliard-Kompositionswett-bewerb bewarb. Guy kommt zwar als Kontrabassist aus dem improvisierten Jazz. Sein dann auch preisgekröntes Stück traf indes bei all seiner Experimentierlust jenen trauertrunkenen Ton, dem sich das Hilliard Ensemble immer wieder gewidmet hatte, sei es in flehenden Kirchengesängen des Mittelalters oder in den weltlichen Leidensmadrigalen des 16. Jahrhunderts.
»Un coup de dés« wurde in das Hilliard Songbook aufgenommen und auf CD eingespielt. Auch die anderen zeitgenössischen Kompositionen, die in jenen Jahren für die Engländer entstanden, spiegelten mehr als nur den Versuch wider, sich aus dem Alte Musik-Korsett zu befreien. Vielmehr gelang hier die erste umfassende Annäherung von musikalischen Epochen und Sprachen, wie sie seither zum Markenzeichen der Hilliards geworden ist.
Speziell mit einem grenzüberschreitenden Projekt hat man es in die Klassik-Charts nach weit oben geschafft und ein Publikum, das bislang hinter Cristóbal de Morales vermutlich einen spanischen Fußballer, kaum einen Renaissance-Komponisten vermutet hätte, zu Kennern eines Kapitels der Musikgeschichte erzogen. Benannt nach einem Sakralwerk von Morales, wurde mit dem Album »Officium« eine musikalische Freundschaft besiegelt, die 1993 begonnen hatte, als sich das Hilliard Ensemble und die norwegische Saxofon-Sirene Jan Garbarek erstmals in Österreich begegnet waren.
Arrangiert hatte das Treffen der Münchner Produzent Manfred Eicher. Laut Counterte-nor David James soll Eicher auf die Kombination in Island gekommen sein, als er im Auto parallel eine Aufnahme von den einen wie von dem anderen hörte: »Er fand den Sound so außergewöhnlich, dass die Idee von ›Officium‹ geboren war.« Mehr als eine Million Mal wurde das Album verkauft, wobei manche Kritiker glaubten, angesichts der meditativ ineinander verschlungenen Jazzlinien und Gesänge vor dem Ausverkauf der heiligen Vokal-Kunst warnen zu müssen. Die Künstler nahmen die Einwände gelassen. 1998 veröffentlichte das fünfköpfige Erfolgsteam mit »Mnemosyne« ein Doppelalbum. Und mit dem aktuellen Programm »Officium Novum«, das bis zur Musik der Ostkirchen reicht, befindet man sich schon seit Monaten auf Tournee.
Die Befürchtung jedoch, dass das Hilliard Ensemble damit seinen Ruf als ernsthafte Rechercheure und Förderer aufs Spiel gesetzt habe, ist unbegründet. Zumal auch der aus hundert Vokalensembles herauszuhörende, markante Hilliard-Sound über die Jahrzehnte von den Interpreten konserviert werden konnte; trotz Umbesetzungen, die bei einem so langlebigen Team halt vorkommen. Von den Gründungs-Mitgliedern blieb nur noch David James. Doch die aktuelle Besetzung mit den Tenören Steven Harrold und Rogers Covey-Crump sowie Bariton Gordon Jones existiert nun auch schon seit über zehn Jahren. Was vielstimmige Homogenität, schwerelose Intensität, fließende Anmut und Innigkeit angeht, hat man es vermutlich mit der bislang besten Hilliard-Formation zu tun.
Dass sie so beeindruckend auf einem Atem höchste Kunst zelebrieren, mag auch daran liegen, dass sich die Musiker außerhalb des Konzertsaals so gut verstehen und sogar gemeinsame Urlaube verbringen. David James betont: »Wir können uns ganz auf die Musik konzentrieren, da nie Spannungen aufkommen.« Hört man sich daraufhin Aufnahmen des frühen Hilliard Ensembles an, ob Motetten aus dem 14. Jahrhundert oder barocke Pub-Songs, scheint schon damals entspannte Einigkeit den Erfolg garantiert zu haben.
Vier ehemalige Chorknaben hatten sich 1974 in London zusammengetan, um die große englische Vokaltradition fortzusetzen. Kaum war in dem britischen Maler Nicholas Hilli-ard der Namenspatron gefunden, wurde die Musikszene durchlüftet, zumal die der Alten Musik, die oft streng und ehrfürchtig vor den Kompositionen auf den Knien lag, etwa vor den A-Cappella-Werken von Ockeghem oder Palestrina.
Welchen Genuss gerade die kontrapunktische Mehrstimmigkeit bietet, wie sie im Rom des 16. und 17. Jahrhunderts zu hören war, zeigte das Hilliard Ensemble zuletzt im Studio im Jahr 2000, als sie ausgewählte Meisterwerke Palestrinas und des Spaniers Tómas Luis de Victoria traumwandlerisch makellos und von betörender Erhabenheit zelebrierte. »In Paradisum« heißt die 75-minütige überwältigende Glücksstunde, die zweimal live bei der Ruhrtriennale wiederholt wird.
Die Vokal-Heroen der Vergangenheit, von Palestrina über Thomas Tallis und Machaut bis J.S. Bach, bilden die eine Programmlinie der Hilliards. Mit dem Engagement für Neue Musik dringen sie darüber hinaus in Klangräume und Raumklänge vor. Bringen sie nicht gerade Werke von Wolfgang Rihm, Erkki-Sven Tüür oder des isländischen Rock-Keyboarders Kjartan Sveinsson zur Uraufführung, stellen sie ebenfalls theatrales Talent unter Beweis. In der Oper »Gesualdo considered as a Murderer« des Italieners Luca Francesconi spielten sie Schulbankdrücker, die noch einmal die alte Polyphonie pauken mussten.
2008 machte der designierte Ruhrtriennale-Intendant Heiner Goebbels das Hilliard Ensemble zum Zentrum der Klangbühneninstallation »I went to the house but did not enter«. Dabei meditierten die Musiker szenisch-musikalisch über Texte von Kafka und Beckett. Am zweiten Abend ihres diesjährigen Triennale-Auftritts werden sie in noch minimalistischere Tonwelten vordringen. Dafür verbünden sie sich erstmals mit dem japanischen Flötisten Tadashi Tajima. Die asiatisch angehauchten Improvisationen führen sodann über Werke von Heinz Holliger zu dem amerikanischen Jahrhundertkomponisten, Pilzsammler und Zen-Buddhisten John Cage. »Litany for the Whale« lautet das Programm, in dem auch das zweistimmige Titelstück zu hören ist, das Cage 1980 komponierte. Wenn zwei der Hilliards in diese halbstündige Wort-Ton-Prozession eintauchen, schließt sich indirekt die Ensemble-Geschichte für einen Moment. Vor zehn Jahren erschien eine Einspielung der »Litany« unter Federführung des Hilliard-Mitbegründers Paul Hillier.
Konzerte am 14., 15. und 16. September 2011; Jahrhunderthalle Bochum.