TEXT: ANDREJ KLAHN
Kindheitserinnerungen sind nicht selten heile Geschichten. Sie spielen in einem Universum, in dem es noch so viel zu entdecken gibt, das unendlich weitläufig und dabei doch so wohlgeordnet ist. Das Erleben des Kindes ist rein und ungetrübt, an jeder Ecke sind Erfahrungen zu machen, die sich mit einer Intensität im Gedächtnis einlagern, wie es nur erste Begegnungen vermögen. Wider besseres Wissen erscheint uns diese Welt unbeschädigt, und sei es allein deshalb, damit sie irgendwann zerbrechen kann.
Unter dem Titel »Vorvorgestern« versammelt Dragan Aleksić 65 »Geschichten, die vom Glück handeln«, kurze Prosaminiaturen, viele nicht länger als eine luftig gesetzte Seite. Sie führen den Leser zurück in die 1960er Jahre, in die kleine jugoslawische Provinzstadt Bela Crkva an der serbisch-rumänischen Grenze, in der Aleksić 1958 geboren wurde. Der Leser tut gut daran, sich bei der Lektüre gegenwärtig zu halten, was die starken Aromen der Kindheit, die Aleksić verströmen lässt, vergessen machen wollen: den Brandgeruch des Jugoslawienkrieges.
Erschienen ist »Vorvorgestern« im Original bereits 1994, in der Zeit des Balkankonfliktes, in der Titos Vielvölkerstaat gewaltsam auseinander bricht. Auch wenn davon in »Vorvorgestern« mit keinem Wort die Rede ist: Das historische Panorama seiner Entstehung grundiert das Buch mit melancholischer Bitterkeit. Es sind geradezu archetypische Provinz-Kinderszenen, die Aleksić aus der Zeit herauspräpariert: Der Einkauf im Krämerladen, in dem der kleine Junge scharfe Bonbons ersteht, grüner Rotz, der aus der Nase läuft, duftender Flieder im Hof, dessen gepflückte Blätter abends aus den Hemden in die Betten rieseln, dicke Platzregentropfen, die auf vertrocknete Blätter trommeln, Dorfbewohner, die dem Kind allesamt Onkel und Tanten sind. Der erste Todesfall, den es für das Kind zu beweinen gilt, ist Japa, das Pferd, das die Kutsche zog, mit der »Opa Duba« und der Junge auf große Fahrt hinaus aus dem Städtchen gingen.
In einem Karton, den der Vater eines Tages mit nach Hause bringt, finden sich Miniaturmöbel, mit denen sich der Erzähler und seine Schwester ein Haus einrichten, von denen die armen Eltern träumen; so lernen die Kinder Worte wie »Sessel«, für die es in ihrer kargen Umgebung keine Anschauung gibt. Das Leben, das Aleksić auferstehen lässt, ist einfach. Doch die wenigen Dinge, mit denen der Alltag in den 60er Jahren möbliert war, bringt Aleksić dafür umso mehr zum Leuchten: den Geruch des frischen Brotes mit Hagebuttenmarmelade, das Klimpern der Schachfiguren in einer Holzschachtel, die das Kind auf den Bergen und Tälern des weißen Bettüberzugs gruppiert. Der Entbehrungsreichtum verleiht dieser Jugend eine Fülle, die sich erst in der Erinnerung zu erkennen gibt; zugleich lassen die Geschichten erahnen, dass das Leben im Dorf dumpf und einförmig ist. Doch Aleksić, der seit 2006 in den USA lebt, konzentriert diese Jahre in Bela Crkva mit der Urteilslosigkeit und Unvoreingenommenheit des Heranwachsenden.
Als utopischer Ort gibt sich die jugoslawische Kleinstadt im Rückblick zu erkennen, in der die Kinder eine »Zigeunerstraße« und eine »Serbenstraße« unterscheiden, ohne damit eine Grenze zu markieren. In den Geschichtsbüchern lässt sich nachlesen, was Jugoslawien einmal war. Das Reich der Kindheit, das Dragan Aleksić in »Vorvorgestern« gegen den Lauf der Zeit so sinnlich zusammenhält, kann als Bela Crkva im heutigen Serbien noch immer verortet werden. Finden lässt es sich mit der Landkarte in der Hand nicht. Wahre Orte, das wissen wir aus Melvilles »Moby Dick«, sind dort nie verzeichnet.
Dragan Aleksić, »Vorvorgestern«; Matthes & Seitz, Berlin 2011, 105 S., 14,90 Euro
Lesung am 11. & 12.6. auf Schloss Welda im Rahmen von »Wege durch das Land«. www.wege-durch-das-land.de