TEXT: MARTIN KUHNA
Es war das größte Kunstprojekt des Kulturhauptstadtjahres: Skulpturen, Installationen, Aktionen auf einem schmalen, aber 34 Kilometer langen Landstreifen zwischen dem Rhein-Herne-Kanal und dem parallel verlaufenden Abwasserfluss Emscher. Den Hintergrund bildet der schier unglaubliche und doch voranschreitende Umbau dieses Flusses und seiner Bachzuläufe zu einem sauberen, naturnahen Gewässersystem. Kunst soll die allmähliche Verwandlung und Rückeroberung der bisher vielfach unzugänglichen, von Fremden gemiedenen Landschaft begleiten. Zentrales Element ist die »Emscherkunst«; sie soll von 2013 an als Biennale weitergeführt werden. Aber auch jetzt tut sich etwas zwischen Baustellen und den auf Dauer etablierten »Emscherkunst«-Objekten.
Lisa (20) und Stefan (25) sind die ersten an diesem Abend. Sie sind aus dem Westerwald mit dem Zug nach Bottrop gekommen und die paar Kilometer vom Bahnhof zum »Parkhotel« gelaufen. Sie haben Zimmer Nummer drei bezogen, liegen Probe auf ihrem Doppelbett und haben trotzdem die Tür offen gelassen – einzige Möglichkeit, nach draußen zu gucken. Die Aussicht wäre vor ein paar Jahren schlicht atemraubend gewesen: ein kreisrundes Becken, in dem unablässig eine Mischung aus Abwasser und bakterienlebendigem Klärschlamm umgerührt wird. Aber die Zeiten sind vorbei.
Das Klärwerk an der Mündung des Berne-Bachs in die Emscher wurde vor über zehn Jahren stillgelegt und erlebte zum Ende des Kulturhauptstadtjahres 2010 eine Wiedergeburt als »Bernepark«. Das hübsche Ma-schinenhaus ist jetzt ein schickes, aber nicht teures Restaurant nebst Biergarten, wie der ganze Park gemeinnützig als Arbeitsförderungs-Projekt betrieben. Eines der beiden Klärbecken wurde zum Teich, das andere gestalteten die Landschaftskünstler Piet Oudolf und Eelco Hooftman zum amphitheatrisch runden Garten: »Theater der Pflanzen«. Bei Dunkelheit schickt eine Lichtinstallation von Mischa Kuball weißes Licht durch dünne Leuchtröhren so im Kreis herum, dass man an dahinflitzende Modell-ICEs denkt. Das haben Lisa und Stefan jetzt von ihrem Hotelzimmer aus im Blick.
Die Hotelzimmer sind in Wahrheit fünf große Stücke Abwasserrohr aus Beton, aneinander gereiht auf einer Böschung oberhalb des Klärbeckens. An den offenen Enden der Röhren sind Türen angebracht, die sich von außen nur durch Eingabe eines Zahlencodes öffnen lassen. Im Innern findet sich je ein Doppelbett, ein Stauraum, eine Steckdose und eine Nachttischlampe. Schließt man die Tür, kommt Tageslicht nur durch ein kleines, verglastes Guckloch oben in der Röhre. Eine Heizung gibt es nicht; das, was die Betreiber sanitäre Einrichtungen nennen, findet sich zwischen Bäumen in einem blauen Container. Immerhin: Es gibt eine Dusche. Gezahlt wird nach Belieben. Früher hätte man gesagt: »à discretion«; im »Parkhotel« heißt es »pay as you wish«.
Die Röhren sehen aus, als habe die Emschergenossenschaft Material aus dem Kanalbau abgezweigt – oder gar gebrauchte Abwasserröhren wiederverwertet. Dem ist nicht so. Die 2,75 Meter langen und neunein-halb Tonnen schweren Röhrenstücke mit je einem verschlossenen Ende entsprechen zwar mit 2,40 Metern Außendurchmesser üblichen Kanal-Maßen, wurden aber eigens als Hotelzimmer fabriziert. Die Idee dazu hatte der österreichische Künstler Andreas Strauss; schon seit 2006 betreibt er ein »Parkhotel« mit drei Röhrenzimmern in Ottensheim an der Donau. Wer für die Nacht 20 Euro hinterlässt, deckt damit in etwa die Reinigungskosten. Wer mehr gibt, unterstützt das gesamte künst-lerische Projekt mit den »Gastfreundschaftsgeräten«, wie Strauss seine Wohnröhren nennt. Wer weniger gibt, nun ja, ist vermutlich geizig.
Nach Lisa und Stefan treffen Michael (52) und Gabi (48) ein. Sie kommen aus Bottrop – genauer aus Fuhlenbrock – und beziehen Zimmer Nummer vier. In Ebel, das ist der Arbeiterstadtteil neben dem Klärwerk, eingezwängt zwischen Kanal, Emscher, Berne, Bahnlinie, A 42 und Stadthafen, seien sie noch nie gewesen, sagt Michael. Das Viertel hat eben einen Ruf zu verlieren. Dann haben sie von der Hoteleröffnung am 1. Mai gehört und sich die Sache mal angesehen. Im Heu übernachten auf einer Nordseeinsel hatten sie schon ausprobiert; eine Nacht auf der »Emscherinsel« schien ihnen nicht minder interessant.
Unterdessen haben Otto (53) und Melanie (33) aus Oberhausen Zimmer fünf bezogen. Offenbar hat das Projekt große Anziehungskraft auf Paare – vielleicht hilft es gegen Bedenken, wenn man sich dem Abenteuer zu zweit stellt. Sie schaut noch immer ein wenig ungläubig herum; er hat sie mit der Übernachtung in Bottrop überrascht. Wäre sie entsetzt gewesen, dann wären sie eben wieder weg, sagt Otto. Aber sie hat sich schon mit der Situation angefreundet. Nachdem er ein paar Spinnen des Zimmers verwiesen hat.
Ein bisschen spazieren gehen, im Maschinenhaus zu Abend essen und am nahgelegenen Büdchen frühstücken, sitzen und schauen (»wir hätten Klappstühle mitbringen sollen«), durch die hellhörige Betonwand nach den Geräuschen dieser seltsamen Landschaft hören – so geruhsam stellen sie sich den Aufenthalt vor. Und so wird es auch. Alles wunderbar, mailen zwei Paare tags drauf. Die Autobahn hätten sie gar nicht gehört, an die unerwartet vielen nächtlichen Güterzüge hätten sie sich bald gewöhnt; vom gelegentlich noch immer zu spürenden Müffeln der Berne und der Emscher ist gar nicht die Rede. Selbst die Spinnen waren harmlos: »empfehlenswert«. Wobei Empfehlungen kaum mehr nötig zu sein scheinen. Die Röhren sind schon gut gebucht; besonders an Wochenenden.
Außer dem jetzt erst richtig aufblühenden »Bernepark« haben weite-re Emscherkunst-Objekte das Kulturhauptstadtjahr überlebt. Am öst-lichen Ende der Emscherinsel steht der hölzerne Aussichtsturm von Tadashi Kawamata inmitten einer ländlichen, grünen Umgebung, in Essen-Altenessen der schwarze »Carbon Obelisk« von Rita McBride. An der Gelsenkirchener Kanalschleuse hockt das »Monument for a Forgotten Future« von Olaf Nicolai, musikbeschallte Kopie eines Felsens im amerikanischen Nationalpark »Joshua Tree«. An einem Klärwerks-Faulturm in Herne gibt es Silke Wagners aufwändiges Keramik-Mosaik mit Szenen der Bergarbeiter-Bewegung zu sehen. Wo sich der Kanal vor einer Schleuse zum »Herner Meer« weitet, ragt Bogumir Eckers gelbe Skulptur »reemrenreh« über den Wasserspiegel, von Einheimischen »Käsestange« genannt. Am westlichen Insel-Ende gibt es sogar ein neues Kunstobjekt: Die spiralig-skulpturale Fußgängerbrücke »Slinky Springs to Fame« von Tobias Rehberger ist eben erst fertig geworden und bietet endlich einen angenehmen Zugang vom Schloss Oberhausen über den Kanal zur Emscherinsel.
Erkunden lässt sich die Insel weiterhin am besten mit dem Fahrrad. Wer kein eigenes mitbringt, findet an mehreren Stellen Verleihstationen. Die ausgeschilderten Wege sind zum Glück noch nicht überlaufen, obwohl die Kunstobjekte beileibe nicht das einzig Interessante an dieser seltsamen Landschaft sind. Vor allem dann, wenn man sich auf kurze Exkursionen nördlich über die Emscher und südlich über den Rhein-Herne-Kanal einlässt. Zum Beispiel: Landidylle in Castrop und an der Grenze Oberhausen/Essen, sogar mit renaturiertem Bach. Gartenschauparks auf ehemaligem Zechengelände in Oberhausen und Gelsenkirchen. Ein nostalgisches, seit Jahren von Schließung bedrohtes Freibad in Essen-Dellwig, gleich am Kanal. Und überall noch immer das chaotische und anarchische Gemenge aus Natur, Industrie, Brache, Häfen, Öltanks, Kohlelagern, Bahnlinien, Straßen und Wohnsiedlungen, mit dem sich die Anwohner seit über 100 Jahren arrangieren, auch in der Freizeit: Wie alle Jahre wird man auch in diesem Sommer sehen, dass man zwar nicht im Kanal schwimmen und erst recht nicht von Brücken hineinspringen darf – aber kann.
Für Gehfaule hat sich aus dem Kulturhauptstadtjahr ein Vergnügen erhalten, das bisher dem idyllischeren Ruhrtal vorbehalten war: Schiffchen fahren. Auch in diesem Sommer pendelt ein Boot der Essener Baldeneysee-Flotte zwischen Oberhausen und Gelsenkirchen nach Fahrplan; »Friedrich der Große« aus Herne und »Santa Monika« aus Dortmund tuckern nur gelegentlich auf dem Kanal. »Emscherkunst« bietet geführte Radtouren und lädt zu einigen Veranstaltungen an den Kunstobjekten ein, zum letzten Mal am Abend des 23. September mit Kurator Florian Matzner und Lichtkünstler Mischa Kuball im Bottroper Bernepark. Dann ist der Inselsommer unwiderruflich vorbei. In den Betonröhrenzimmern des »Parkhotels« werden die Nächte kühl, und wagemutige Paare könnten sich leicht in Kämpfe um Wolldecken verwickeln. Deshalb werden die »Gastfreundschaftsgeräte« im Oktober außer Betrieb gesetzt, bis Mai 2012.
www.emscherkunst.de + www.bernepark.de + www.dasparkhotel.net