DIE NACKTEN UND DIE TOTEN
»AMERIKA« UND »HAUS AM SEE« IN BOCHUM
Kafka zu dramatisieren, ist ein Wagnis, weil fest auf Bretter zu stellen ist, was der Text schwebend hält. Um Kafkas prinzipielle theatralische Ungreifbarkeit zu überwinden, hat die Gruppe SIGNA für das Schauspiel Köln unlängst »Der Proceß« auf die Grundsituation des Ausgeliefertseins reduziert und diese dann in einer Art Erlebnistheater neu ausbuchstabiert. Das Schauspiel Bochum wählt den traditionellen Weg, wenn es weite Passagen von Kafkas Roman »Der Verschollene« in Dialogform überträgt und als »Amerika« auf der großen Bühne szenisch nacherzählt. Vielleicht liegt hier schon das Problem. Jedenfalls ist das Ergebnis ein großer Verlust an jener flüchtigen »kafkaesken« Vielfachbelichtung zugunsten des markanten Bildes.
Amerika nämlich ist eine Art Puppenwelt: Karl Roßmann das einzige atmende Wesen unter Pop-Pappfiguren, die das Menschliche nur vorschwindeln. Das tapfere runde Staunen, das Dimitrij Schaad verstrahlt, aber unterliegt der grellen Flachheit ringsum. Die Tonlage der Inszenierung ist laut und nuancenfrei, gleich anfangs auf Schock aus, wenn Werner Strenger als der legendäre Heizer ewig nackt umherwankt. Aber ein Pimmelchen kann nun mal nicht Theater spielen, und endlose Wiederholungen ganzer Passagen konterkarieren auch die gekonnteste Choreografie. Hätte sich Regisseur Jan Klata von der genialen Phantasie mitreißen lassen, die das Bühnenbild seiner Szenografin Justyna Łagowska beweist, es hätte etwas daraus werden können: Wie in einem riesigen Aufklapp-Bilderbuch fallen fotorealistisch bunte Prospekte nach vorn, um jeweils eine neue Station aufzuschlagen.
Unterkomplexität ist auch das Problem von »Haus am See«, hier jedoch bereits bei der Vorlage, Reto Fingers Auftragsstück für die Kammerspiele. Eine Familienfeier im alten Elternhaus am Gewässer, die drei ungleiche Brüder und ihre Frauen zusammen- sowie ein dunkles Geheimnis herausbringt: Schon das Setting ist allzu abgegriffen. Jedoch ist die klare, knappe, intensive Sprache Fingers stark genug, um Figuren mit Volumen, Kontur und Geschichte auszubilden. Was das Ensemble dankbar annimmt: An der Festtafel (Bühne Alex Harb) entfaltet sich zum Vergnügen des Zuschauers das alte Familienspiel: In-Wunden-Bohren. Zur Steigerung der Dramatik arrangiert der Autor dann jedoch nur Grobes aus Krimi und Boulevard: Alpha-Bruder Robert demütigt seinen Bruder und hat(te) was mit dessen Frau; auch gräbt er nicht für Rosenstöcke, sondern nach den Leichen der Eltern, die angeblich verschollen sind, in Wahrheit von ihm erschlagen wurden; die plötzlich auftauchende Vera, angeblich Geliebte des Problembruders Michael, weiß (wie in Priestleys »Ein Inspektor kommt«) alles, ist aber in Wahrheit Roberts illegitime Tochter und setzt am Schluss das Haus am See in Brand. Nicht ohne dass Robert zuvor in einer Reuerede alles bekannt hätte.
Anselm Weber inszeniert die Uraufführung teils allzu behutsam (das Fest hätte, schon der Fallhöhe wegen, rauschender ausfallen können), teils zu plakativ (Veras Provokationen geraten ins Unglaubhafte; das Ende ist reines Melodram). Zwischenein aber zeigen die Schauspieler große Freude an ihren Figuren: Michael Schütz als zwischen unterdrückter Wut und Teddybärenliebenswürdigkeit taumelnder Familienmensch; Katharina Linder als Frau der vielen übereinandergeschichteten Leidens-Fassaden; Matthias Redlhammer als messerscharfer Robert-Gnadenlos. | UDE
NICHT ALLE TASSEN IM SCHRANK
DOSTOJEWSKIJS »IDIOT« IN OBERHAUSEN
Ein Pausenclown mit roter Nase eröffnet das Spiel – und den Raum hinter den Spiegeln, dort, wo Wirklichkeit am Traum zerschellt. Es ist, als hätte ein surrealer Hexenmeister wie Maître Cocteau die Hände im Spiel und nicht ein dem Allotria so abholder Kopf wie Fjodor Dostojewskij. Am Theater Oberhausen inszeniert der aus Kiev stammende Andriy Zholdak dessen Roman »Der Idiot«. So wird Fürst Myschkin genannt, der Gottesnarr, das große Kind, die heilige Einfalt, der doch für viele zur Vertrauensperson wird. Nach Jahren in einer Schweizer Anstalt kehrt er nach St. Petersburg zurück und gerät sogleich in einen Liebes- und Leidenschaftskrieg: den von Rogoschin und der schönen Nastassja Filippowna, Mätresse eines reichen Bourgeois. Im Salon des Generals Jepantschin, Myschkins entfernter Verwandtschaft, trifft der Fürst bald auch die Tochter des Hauses Aglaia, und den Sekretär Ganja, der mit der Filippowna verheiratet werden soll, um ihr nach außen hin ehrbaren Status zu geben.
Zholdaks dreieinhalb Stunden sind eher choreografierte Phantasie über »Der Idiot«, als dessen Nacherzählung: verschärfter, poetisch deformierter Realismus in von Jalousien gefiltertem Licht, zwischen Ikonen und hohen Flügelfenstern vor einem Birkenhain, mit wie von Degas positionierten Ballerinen, Slapstick-Einlagen und unablässiger Begleitmusik (Komposition: Sergey Patramanskiy) aus sägenden, sirrenden, wimmernden, bohrenden, blubbernden Klängen oder perlendem Piano. Die Klang-Folter befördert noch das herrschende Reizklima und die geistige Zerrüttung, all die Tics und sonstigen schrägen Zustände der verschraubten Gesellschaft und ihrer zu manischer Künstlichkeit herausgeforderten (und überforderten) Darsteller. Es ist, als hätten sie nicht alle Tassen im Schrank, während das Geschirr selbst aber in oft klapperndem Gebrauch steht. So veranstalten die eher bei Gogol als bei Dostojewskij vermuteten Geschöpfe ein grotesk gesteigertes, total anti-psychologisches Ballett, dessen Hysterie und Konfusion die lautere Emphase des lädierten Myschkin (Michael Witte) konterkariert; und sie dokumentieren, wie der Nihilismus als Neurasthenie funktioniert und einen schönen guten Menschen – wie auch das Publikum – um den Verstand bringt. | AWI
VERSLUMT
PUCCINIS »MADAMA BUTTERFLY« IN ESSEN
Bei der Mailänder Uraufführung 1904 wurde das Werk als Skandal und Provokation erlebt. Die Premiere war für Puccini ein Desaster, seine Sozial- und Kolonialismuskritik führte zu Tumulten. Erst eine entschärfte Fassung ebnete »Madama Butterfly« den Weg ins Repertoire. Heute wird der Oper hingegen Sentimentalität vorgeworfen. Ein Missverständnis? Die Titelheldin ist unter den großen Frauenfiguren Puccinis die wohl tragischste und ihr Niedergang vor dem Hintergrund eines interkulturellen Konflikts noch immer oder schon wieder brisant. Am Aalto-Theater erzählt Tilman Knabe die Geschichte von Cio-Cio-Sans nicht nur fremd verschuldetem Schicksal atemberaubend konsequent und verschiebt sie in die Gegenwart. Sie lebt in einem klapprigen Container. Pinkerton kommt in Jeans, mit Sonnenbrille und Cowboystiefeln. Die Verwandtschaft macht Krawall, die Frauen gern im Manga-Schulmädchen-Look und offensichtlich auf dem Strich zuhause. Nur Cio-Cio-San trippelt im keuschen Kimono umher und gibt sich als kultivierte Geisha, weiß als Halbwaise allerdings genau, dass sie den Amerikaner und dessen Versorgungsversprechen durch die (in Wahrheit nur fingierte) Ehe dringend braucht. Nach drei Jahren lümmelt die einstige Schönheit (Annemarie Kremer, die sich zu großer Form steigert) verfettet im Jogging-Anzug auf der Couch, hängt an der Flasche und hat das Zimmer mit US-Devotionalien dekoriert. Unter Obamas Porträt beschwört der Schriftzug »Hope« die Assimilation an den American Way of Life als Verslumung. An dieser Verfalls-Szenerie reiben sich die süßen, exotisch getönten Sehnsuchtsgesänge umso schmerzlicher als verzweifelte, hochfahrende Illusion. Die bösen Bilder unterfüttert und konterkariert Stefan Soltesz mit flammenden Klängen, die brutal ausbrechen können, aber auch zum intimen Kammer-Ton und zur zerbrechlichen Zartheit finden. | REM
GEWÜRFELT
MOZARTS »COSÌ FAN TUTTE« AN DER RHEINOPER
Der ironische Untertitel »La scuola degli amanti« weist bereits darauf hin, dass Mozarts »Così fan tutte« nur eine heitere Komödie ist. Hinter der albernen Verwechslung lauern ein grausames Kammerspiel und eisige Desillusionierung. Als harmlose Buffa wird die Oper denn auch fast nirgends mehr gegeben, gern aber die Labor-Metapher bemüht, die das Experiment am offenen Herzen sinnfällig machen soll. Auch Nicolas Briegers Deuter an der Düsseldorfer Rheinoper setzt auf diesen Schlüssel zum Werk. Vor einer Wand aus Glasbausteinen stehen sechs mit italienischen Silben beschriftete Würfel herum. Die Buchstaben »fe« (Ferrando), »fi« (Fiordiligi) oder »de« (Despina) benennen die Namen der Protagonisten. Ein Kombinationsspiel also.
Zwar werden die Würfel in den folgenden Stunden fleißig hin und her getragen und verschoben, auch machen sie sich schon mal selbstständig. Dem Verständnis dienen sie indes nicht. Die Personenregie ist hingegen feiner gewirkt. In der Ouvertüre liegen die Protagonisten verknäuelt auf der Bühne. Kaltes Laborlicht beleuchtet die Versuchsanordnung. Der Blick auf Mozarts Figuren und ihr Liebessehnen ist unbestechlich, bis ins Letzte das Geschehen choreografiert, keine Geste, kein Blick bleiben dem Zufall überlassen. Das beschert Einsichten in den Beziehungsreigen der (Selbst)-Täuschungen, vor allem das zynische Duo Don Alfonso / Despina gewinnt so überraschende Nuancen; beide entwickeln statt Häme eher zerknirschte Verzweiflung über die angezettelte Enthüllung. In der Summe wirkt Briegers Millimeterarbeit dennoch übercodiert und arg unterkühlt. GMD Axel Kober hält die Düsseldorfer Symphoniker zu schlankem, durchsichtigem Spiel an, überhastet aber vieles. Das durchweg junge, leicht besetzte Sängersextett ist engagiert bei der Sache – und Jussi Myllys als Ferrando eine Entdeckung: ein Mozart-Tenor mit bruchlos geschmeidiger Höhe, makellosem Legato, Endlos-Atem und schmelzendem Metall. | REM
AUS DEUTSCHEN STUBEN
LORTZINGS »WILDSCHÜTZ« IN BONN
Schulmeister Baculus hat heimlich im Jagdrevier des Grafen Eberbach gewildert, um den von seiner jüngeren Braut Gretchen gewünschten Hochzeitsbraten zu erlegen, wurde dabei jedoch erwischt und seines Amtes enthoben. Nun soll weibliche List helfen, den Grafen umzustimmen, denn der gilt als notorischer Schürzenjäger. Gretchen bietet sich zunächst selbst an, den heiklen Auftrag zu übernehmen, doch Baculus’ Eifersucht hat was dagegen. Ein Reigen der Verkleidungen und Verwechslungen hebt an, darin gipfelnd, dass ein Baron dem Schulmeister 5.000 Taler für sein Gretchen bietet. Wird der die Offerte annehmen? Lortzings Kritik und satirische Spitzen richten sich keineswegs nur gegen den blasierten Adel und dessen dekadente Hobbys, sondern auch gegen die Gier der Dörfler nach Geld und Glanz, das Verrohte ihrer Vergnügungen, das Engstirnige ihrer rigiden Moral bei gleichzeitigem Schacher-Wesen.
»… Oder ein unmoralisches Angebot« untertitelt Dietrich Hilsdorf Lortzings »Wildschütz«, um (hollywoodesk) klarzustellen, dass er sich mit einer harmlosen Biedermeier-Komödie nicht zufrieden gibt. Tatsächlich bieten Handlung und freche Dialogtexte sozialpolitischen Sprengstoff im volkstümelnden Gewand. Nachdem der Regisseur die deutsche Spieloper im letzten Jahr in Chemnitz inszeniert hat, wird die sängerisch überzeugende, musikalisch dank des aufgerauten Klangbildes oftmals überraschende Produktion vom Theater Bonn übernommen.
Dieter Richter hat im ersten Akt ein bedrückendes Klassenzimmer gebaut, an dessen abblätternden Wänden Sinnsprüche wie »Bete und arbeite« mahnen. Es herrscht dumpfe Atmosphäre wie in Michael Hanekes »Das weiße Band«, die Kinder wirken verängstigt, die Braut scheint unglücklich, Baculus täppisch und selbstherrlich in seiner Einfalt. In Schloss Eberbachs Rokokogemäuer indes hat die literaturbeflissene Gräfin antike Säulen installieren lassen, man hat keinen Geschmack und langweilt sich gehörig.
Hilsdorf scheut bisweilen auch den krachenden Witz nicht, doch für Gemütlichkeit ist kein Raum. Zu unbarmherzig geschärft sind die Pointen, zu beißend ist der Spott. | REM
INNENLEBEN
ALBAN BERGS »WOZZECK« IN KÖLN
»Wir arme Leut«, singt der Wozzeck, als der Hauptmann ihm Moral predigt. Ein Erniedrigter und Beleidigter. Alban Berg hat in seiner Vertonung von Büchners Dramenfragment erstmals überhaupt in der Geschichte der Gattung Oper Armut und Elend ins Zentrum gestellt. Das kann auf der Bühne leicht im sauren Kitsch enden. Ingo Kerkhofs Regie hingegen vertraut auf die Kunst des Weglassens und setzt im Kölner Palladium mit kühler Konsequenz auf Reduktion und Ausnüchterung. Gisbert Jäkel hat ihm in der ehemaligen Industriehalle eine ungewöhnlich tiefe, hinten umdunkelte Bühne gebaut. Bläuliches Licht erhellt die karge Szene: zwei Brecht-Vorhänge, ein Festzelt für die Wirtshausszene und nichts als ein paar Requisiten, die rein und raus getragen werden. Jessica Karges Kostüme zitieren ländliche Vergangenheit.
Selbst das Messer fehlt, mit dem Wozzeck seine Marie ersticht. Er schiebt lediglich die bloße Hand unter ihr Kleid: ein tödlicher Griff. Die Inszenierung schaut in Wozzecks Innenleben. Florian Boesch zeigt ihn als versehrte, inneren Überdruck nur mühsam beherrschende Kreatur, die sich nicht mitzuteilen weiß. Dieser Wozzeck schwitzt und keucht nicht, er hat gar nichts »Verhetztes«, wie ihm der Hauptmann vorhält, eher etwas gefährlich Verlangsamtes, Stockendes. Vermieden sind die Klischees des armen Teufels. Wozzeck entwickelt eine verzweifelte Gebrochenheit, die in leisen Momenten den Abgrund zeigt. Inwendig glühend ist Boesch auch musikalisch das Kraftzentrum und stattet Bergs gewaltige Partie mit der Nuanciertheit und makellosen Diktion des Lied-Sängers aus. Nie poltert sein flexibler, edler Bariton, nie trumpft er auf, im Gegenteil nimmt er ganze Passagen ins delirierende Piano zurück.
Asmik Grigorians Marie setzt ihren dunkel timbrierten, lyrisch angelegten, herrlich ausschwingenden Sopran mit expressiver Vehemenz ein. Auch die weiteren Rollen sind vorzüglich besetzt. GMD Markus Stenz kennt die Tücken für die Sänger durch Bergs massiven Orchesterapparat, zumal in der knallig direkten Akustik des Palladiums, und hält das Gürzenich Orchester dynamisch an der kurzen Leine. Dadurch erreicht er mustergültige Transparenz und betörende Klangschönheit. Auch im Orchester also ungeheure Konzentration, Klarheit und Intensität. | REM