TEXT: GUIDO FISCHER
Das letzte Mal, dass die Klassik Tanzboden unter die Füße bekam, war in den 1990er Jahren. Damals lud der so kongeniale wie exzentrische Beethoven-Spezialist Friedrich Gulda zur Mozart-Disco ein, um dabei neckisch mit Go-Go-Tänzerinnen herumzuhopsen. Disco ist ja heutzutage nur noch was für Ü 40-Partys. Seit Neuerem aber macht jemand der Klassik wieder Beine. Zumal es da vor über drei Jahrhunderten einen Komponisten gab, der den Techno-Groove gewissermaßen mit erfunden hat: Johann Sebastian Bach. Dessen zeitgemäß anspringendes Rhythmusgefühl haben bislang Jazz- und Rock-Musiker durchaus schon beglaubigt. Aber was, bitte, hat etwa eine kunstvoll ins Dreidimensionale konstruierte Barock-Fantasie mit Techno-Bumm-Bumm in der Dauerschleife zu tun?
Francesco Tristano hat sich darüber Gedanken gemacht und ist auf eine einfache Antwort gekommen. Für den Luxemburger Pianisten steckt in Bachs Prinzip der rhythmischen Wiederholung die kinetische Energie des Vierviertel-Beats des Techno! Dank dieser Entdeckung gab es für den Musiker keinen Zweifel mehr, dass in der Musik seit jeher irgendwie alles zusammenhängt. Er denke nicht, sagt er, in Musikgenres: »Musik ist für mich ein Kontinuum.«
Ganz unbekannt ist dieses Credo natürlich nicht, seit es vor allem in der Klassik-Branche als Freibrief kursiert, um mit elektronischen Club-Sounds neue Hörerschichten zu generieren. Auch bei Tristano dachte man 2008 an solch einen Marketing-Gag, als sich der ehemalige Schüler der amerikanischen Bach-Legende Rosalyn Tureck mit dem Detroiter Techno-Star Carl Craig zusammentat. Doch im Gegensatz zum Kolle-gen Lang Lang, der sich jüngst mit einem mauen Playstation-Soundtrack an die Facebook-Generation anzubiedern versuchte, sind Tristanos Techno-Flirts keine strategisch konzipierten Retortenprojekte.
Die Verschmelzung des Klangs eines riesigen Flügels mit dem eines handlichen Drum-Computers hatte sich schon lange bei diesemKünstler angekündigt, der als Kind mit Rock und Barock, Vivaldi und Wagner, Pink Floyd, Tangerine Dream, John McLaughlin und Weather Report aufwuchs.
Während er an der New Yorker Juilliard School tagsüber Bach & Co. studierte, ging er abends als DJ auf die Piste. Später dann, nach wei-teren Studien in Brüssel, Riga, Paris, Luxemburg sowie Katalonien und seinem Debüt im Jahr 2000, nach Preisen bei Wettbewerben, nach Tourneen durch die ganz großen Konzertsäle und Einspielungen u. a. von Bachs Goldberg-Variationen, stieg er parallel tief in experimentelle Sound-Welten ein. 2007 erschien das Album »Not For Piano«, für das Tristano Techno-Klassiker für Klavier einrichtete. Solche organisch gewachsenen Grenzüberschreitungen machten nicht nur Insider hellhörig.
Model-Qualitäten attestierte ihm die Zeit und beschwärmte: »wilde Locken, sinnliche Lippen, einen Kehlkopf, der die Blicke auf sich zieht, raffinierte, eng geschnittene Kleidung und den androgynen Typ«. In-zwischen hat der 29-Jährige, der tatsächlich so aussieht, wie er heißt (Tristano ist eigentlich sein zweiter Vorname), bei einem noblen Klassik-Label ein neues Zuhause gefunden, das im Klavierbereich mit Pollini & Co. bislang eher konservativ aufgestellt war.
Obwohl sein Debüt-Album mit Bach und dem Amerikaner John Cage (1912–1992) auf den ersten Blick eher auf Kontraste zu setzen scheint, gibt es für den auch im richtigen Leben vielsprachigen Tristano wiederum nur Schnittstellen: »Es gibt keinen Cage ohne Bach«, konstatiert er.
Diese These muss man sich beim Hören erst mal erarbeiten. Denn Tristanos motorisch prägnantes Bach-Spiel ist eigentlich das Gegenteil des in sich ruhenden und dann wieder leicht exotischen Minimalismus von Cage. Doch wenn zwischendurch leichte Klangmanipulationen und Halleffekte eingeschmuggelt werden, hat zumindest das Berliner Techno-Urgestein Moritz von Oswald als Produzent jene Linien beigemischt, mit denen Bach und Cage zu Brüdern im Geiste werden.
Durchaus gespannt darf man sein, wie Francesco Tristano, der übrigens in dieser Saison Artist in Residence der Hamburger Symphoniker ist, diese Verwandtschaft beim Klavier-Festival Ruhr nur mit seinem Flügel beweisen wird.
Francesco Tristano tritt am 9. Mai im Kulturzentrum August Everding in Bottrop auf; www.klavierfestival.de
Zwei weitere Auftritte folgen bei der Ruhrtriennale am 1. und 2. September in der Jahrhundert-halle Bochum; www.ruhrtriennale.de