INTERVIEW: MICHAEL STRUCK-SCHLOEN
Vor knapp 25 Jahren wurde die Kölner Philharmonie eröffnet, der erste moderne Konzertsaal in Nordrhein-Westfalen, mit dem ein neues Kapitel im Konzertbetrieb aufgeschlagen wurde: durch moderne Programmformate und Aboreihen, ein dezentrales Konzertkartensystem und frischen Dialog zwischen Veranstalter, Künstlern und Publikum. Dieses Modell gilt seither als Erfolgskonzept, dem auch die neu gegründeten Konzerthäuser der Region folgen. Hinzu gekommen ist vor allem die Jugendarbeit: Education-Projekte, die sich sogar an Ungeborene richten. Konzerthäuser, ob die traditionsreiche Tonhalle in Düsseldorf, ob in Dortmund und Essen, ob die Duisburger Mercatorhalle, die geplante Bochumer Symphonie oder das vorerst gestoppte Beethoven Festspielhaus in Bonn gelten als Attraktivitätssteigerung einer Stadt. K.WEST hat drei Intendanten nach ihrer »Kundschaft«, nach Vermittlung und Programmatik befragt: Louwrens Langevoort (Kölner Philharmonie: LL), Michael Becker (Tonhalle Düsseldorf: MB) und Johannes Bultmann (Philharmonie Essen: JB).
K.WEST: Wie positionieren Sie sich in der Stadt, um welche Bevölkerungsgruppen müssen Sie sich besonders kümmern?
JB: Grundsätzlich spiegeln wir, weil wir steuerfinanziert sind, die gesamte Gesellschaft ab, vom Alter her, beim Säugling angefangen, und alle sozialen Schichten. Das spiegelt sich im Programm wieder – von der Operette zu Jazz und Rock, von alter zu neuer Musik. In Essen sprechen wir zudem die türkische Gesellschaft an, was uns nur sehr schwer und nur mit Unterstützung des türkischen Generalkonsulats gelingt.
K.WEST: Weshalb nicht?
JB: Auch wenn wir Plakate in Türkisch drucken – vielleicht leben die türkischen Mitbürger zu sehr abgeschlossen, vielleicht hatten sie selbst in ihrer Heimat kaum Kontakt zur türkischen klassischen Musik?
LL: Das stimmt für Köln nicht ganz, wir hatten die Sezen Aksu Acoustic Band in der Philharmonie – das Haus war voll.
JB: Aber ist es denn unser Auftrag, die türkische Popmusik zu bedienen und nicht nach dem vermeintlich »Höheren« zu streben?
LL: Ich meine schon, weil etwas wie Sezen Aksu anders ist als unsere westliche Pop- und Rockkultur. Ich finde auch, dass Musik zum Ramadanfest in die Philharmonie gehört – das wurde ebenfalls gut angenommen.
JB: Andererseits haben wir Werke eines im Iran sehr bekannten Komponisten mit Beethovens Fünfter kombiniert. Da kamen aus ganz Deutschland Perser angereist, die auch Beethoven stark bejubelten. Man merkte, wie sich da unterschiedliche Welten gegenseitig gefunden haben. Aber wir haben ja auch in unserer klassischen Musikszene starke Unterschiede. Es gibt eine Klientel, die alles von Bach bis Stockhausen mitnimmt. Eine andere ist stark fokussiert auf das klassisch-romantische Repertoire. Wir nutzen letzteres, um an das Publikum zu kommen, das wir gern vermehrt im Hause hätten.
K.WEST: Das klassisch-romantische Repertoire als Lockmitttel – aber können nicht auch Schumann und Tschaikowsky als Repräsentanten der Hochkultur Schwellenängste hervorrufen? Was unternehmen Sie, um diese Schwelle abzusenken?
LL: Hochkultur bedeutet doch nicht, dass sie elitär ist und niemand dazu kommen darf. Ich spreche von Hochkultur für alle.
K.WEST: Wie versuchen Sie, die zu vermitteln?
LL: Es gibt viele Vermittlungsprogramme: etwa die Baby-Konzerte, die wir vor fünf Jahren eingerichtet haben, oder Spezialprogramme für jede Altersgruppe – darunter für 30- bis 50-Jährige und für Senioren.
K.WEST: Wie vermittelt man Musik an Babys?
LL: Indem man ihnen Musik bietet und so ihre Neugierde weckt. In meinem Elternhaus wurde immer Musik gemacht, also hatte man sie vor der Geburt schon in sich.
MB: In der Tonhalle geht es noch früher los. In der Reihe »Ultraschall« werden Schwangere mit unaufgeregter Musik konfrontiert und sie haben die Möglichkeit, sich mit Yoga eine entspannte Situation zu schaffen. Außerdem haben wir ein stringentes Programm, das bei den Null- und Einjährigen beginnt, dann folgen Zwei- und Dreijährige, Sechs- bis Achtjährige und so fort, wobei man versucht, der intellektuellen Aufnahmefähigkeit des jungen Publikums gerecht zu werden. Wir hoffen also nicht auf ein Publikum der Zukunft, wir kümmern uns um das Publikum von jetzt.
K.WEST: Die Konzerthäuser ersetzen für kleine und größere Kinder die Funktion, die früher die Hausmusik oder der Plattenschrank zuhause erfüllte. Also eine soziale Maßnahme?
LL: Wir müssen es tun, denn in den Schulen passiert es kaum mehr, und viele Eltern nehmen sich nicht mehr die Zeit, Kinder mit Musik vertraut zu machen.
MB: Aber in den Schulen ändert sich das gerade. Wir haben in Düsseldorf ein Projekt, an dem die Hälfte der Grundschulen beteiligt ist, mit etwa 10.000 Kindern. Es heißt »Singpause«, wird vom Städtischen Musikverein organisiert und setzt die Idee um, die Kinder wieder an Lieder heranzuführen, was lange in den Schulen vernachlässigt wurde. Einmal im Jahr treffen sie sich bei uns und singen gemeinsam.
K.WEST: Gibt es schon Erhebungen über die Auswirkung der Kleinkind-Konzerte?
JB: Dafür ist es noch zu früh. Ich hoffe, dass wir mit unseren Maßnahmen nicht nur Hörer gewinnen, die erst mit 50 wiederkommen, sondern schon mit 30 ihr Abo kaufen.
MB: Das traditionelle Konzertpublikum, das bis heute durchhält, hat allerdings sehr klare Vorstellungen davon, was es hören möchte und was nicht. Viel offener dagegen ist die WDR 2-Generation mit dem schlechten Gewissen, die bisher nicht zu uns kommt, aber weiß, dass man eigentlich etwas tun müsste. Wir haben für Nachmittagskonzerte am Sonntag den Kabarettisten Christian Ehring gewonnen – die Hütte war voll beim ersten Konzert mit Vivaldis »Vier Jahreszeiten« und dem Violinkonzert von Philip Glass. Die Leute standen auf den Sitzen. Wiederum eine Frage der Vermittlung.
K.WEST: Wie sehr identifiziert man denn Ihr Haus mit dem ansässigen Orchester?
MB: In Düsseldorf herrscht eine besondere Situation. Ich bin – anders als in Essen, Dortmund oder Köln – gleichzeitig Intendant der Düsseldorfer Symphoniker. Aber es gibt nicht nur die Symphoniker, auch eine Orchesterakademie mit Studenten, die im Idealfall ins Orchester wechseln, wir haben ein Jugendsinfonieorchester, ein Orchester U 16, ein Kinderorchester. Also das, was wir im Publikum sehen wollen, sieht man auch auf der Bühne – das ist für die Gesellschaft ganz wichtig.
K.WEST: Ist das nicht der Beweis dafür, dass es für Kultur ein umfassendes Interesse gibt?
JB: Seit Jahren wird ja dieser Kulturpessimismus diskutiert – für mich völliger Blödsinn. Ich behaupte, dass es in der Musikgeschichte noch nie so viele Menschen gab, die sich mit Theater, Oper und Konzert beschäftigen, wie seit den 1970er Jahren. Wir alle bieten wesentlich mehr an als früher. Nehmen wir die Konzerthäuser. In Nordrhein-Westfalen war bis 1986 nicht mal eine gescheite Philharmonie vorhanden.
MB: Nur die Tonhalle!
JB: … und mehrere Allzweck-Saalbauten im Ruhrgebiet. Es gibt also Grund zum Kulturoptimismus. Was an Investitionen in diesem Bereich, von den Konzerthäusern bis zur Ruhrtriennale, stattfand, ist unglaublich. Das Jammern kommt eher von den CD-Labels mit ihren Absatzproblemen.
K.WEST: Aber ist nicht die Grenze der Expansion erreicht? Sind nicht internationale Orchester, die früher häufiger in NRW gastierten, unerschwinglich geworden?
JB: Unsere Budgets sind rückläufig – und spontan würde ich sagen, dass der Markt gesättigt ist. Aber das hätte man vor 20 Jahren auch gesagt; niemand hätte damals gedacht, dass sich eine Triennale in Köln und im Ruhrgebiet entwickelt, dass ein Klavier-Festival Ruhr entsteht, zu schweigen davon, dass neben der Kölner Philharmonie und der Tonhalle die Mercatorhalle in Duisburg sowie die neue Philharmonie in Essen und das Konzerthaus Dortmund existieren.
LL: Man findet immer Möglichkeiten, um für neue Konzertformate ein neues Publikum zu gewinnen. Die Sparwut, die etwa zwei Opernhäuser zusammenlegen will, führt doch nur dazu, dass man ein Publikum in die Wüste schickt.
JB: Schauen wir uns die privaten Fernsehsender an. Vor zehn Jahren war niemand suizidgefährdet, weil ihm »Big Brother« oder »Deutschland sucht den Superstar« fehlten. Sollte es uns gelingen, den Menschen die Notwendigkeit klar zu machen und damit das Bedürfnis, sich mit klassischer Musik auseinanderzusetzen, hätten wir gewonnen.
K.WEST: Bei diesen Fernsehformaten spielt Beteiligung eine wesentliche Rolle. Der Anreiz ist, dass jeder mitmachen kann. Lässt sich das Prinzip auf Ihr Genre übertragen?
JB: Klar, machen wir auch. Etwa eine Matthäuspassion zum Mitsingen mit Simon Halsey, dem WDR-Chor, einer tollen Orchesterbesetzung, die man sich auch selbst ohne mitzusingen anhören würde.
K.WEST: Verlangen Sie eine Aufnahmeprüfung?
LL: Überhaupt nicht. Jeder darf mitsingen. Aber singen kann man auch eher, als auf der eigenen Geige bei den Wiener Philharmonikern mitspielen zu wollen.
JB: Partizipation bedeutet doch auch: Wie vermittle ich Interpretation? Wie kann ich ohne Sprache, durch die Kunst des Hörens, einen Dialog zwischen Künstler und Publikum herstellen? Bei manchen Konzerten kann sich das Publikum direkt mit den Künstlern nach den Aufführungen austauschen. Auch eine Form der Beteiligung.
LL: Die beste in dieser Hinsicht ist Cecilia Bartoli, die leistet fast schon psychologische Beratung. Da warten 400 Leute auf ein Autogramm und können ihr alles erzählen oder beichten. Vielleicht sind diese Momente für Bartoli selbst die Batterie, mit der sie sich auflädt.
K.WEST: Um die Euphorie zu hinterfragen: Wie eng ist die Verflechtung mit den Künstleragenturen?
LL: Wir sind total unabhängig. Cecilia Bartoli bietet uns natürlich das Programm, das sie frisch auf CD aufgenommen hat, mit anderen Programmen ist Sie nicht auf Tournee. Das muss man akzeptieren.
K.WEST: Doch Abhängigkeit vom CD-Markt?
JB: Nein. Wenn wir nur reagieren auf Faxe und E-Mails von den Agenturen, lässt sich auch mit knappem Vorlauf planen. Wenn wir selbst bestimmte Ideen umsetzen wollen, gehen wir oft nicht über Agenturen, sondern direkt zu den Künstlern und versuchen sie für unsere Ideen zu gewinnen. Das bedeutet allerdings einen mehrjährigen Vorlauf der eigenen Planung.
K.WEST: Sprechen Sie sich über die Programme ab oder spielt Anne-Sophie Mutter in Köln, Essen und Düsseldorf das gleiche?
JB: Wir haben gewisse große Künstler mit gleichen Programmen. Aber wir setzen alle andere Schwerpunkte in unseren Themenreihen und Dramaturgien.
MB: Bei uns ist das ein bisschen anders, weil wir keine GmbH, sondern ein städtischer Betrieb sind. Und die teuren Künstler und Orchester sind laut städtischer Anweisung von einem kommerziellen Veranstalter zu engagieren. Wenn ich selbst ein aufwändigeres Programm mache, muss der Rat erst die Eintrittspreise genehmigen.
LL: Die Probleme habe ich nicht, deswegen können wir selber programmieren, und die Kommerziellen sind auch noch da. Wir müssen uns über die großen Konzerte verständigen, wobei wir eher die Konzerte nehmen, die die Kommerziellen nicht nehmen würden – mit Akzent auf neue Musik und junge Künstler.
K.WEST: Einerseits müssen Sie ordentlich wirtschaften, andererseits einen Kulturauftrag erfüllen, der auch das Sperrige, auch neue Musik umfasst. Führt das bei schwindenden Budgets nicht zu Problemen?
LL: Solange ich mein Budget einhalte, darf ich alles auf die Bühne bringen, was ich vertreten kann. Mein Aufsichtsrat darf über Inhalte nicht mitreden.
JB: Natürlich sind die Konzerte der zeitgenössischen Musik bei uns, wie auch andernorts, schlechter besucht als Konzerte mit Anne-Sophie Mutter. Die Frage lautet: Ist es uns das wert, sehen wir unseren Auftrag darin, auch diese Musik in die Gesellschaft tragen. Wenn man entsprechend dieser Erwartungen sein Budget plant, ist alles völlig in Ordnung.
MB: Ihr habt in Essen, wie wir in Düsseldorf auch, den Vorteil, kleinere Säle bespielen zu können. Das ist das Gemeine in Köln, da gibt es nur den großen Saal. Wir führen neue Musik im kleinen Hentrich-Saal auf, da sitzen 200 zufriedene Leute. Es fühlt sich gut an. Und nicht leer.
K.WEST: Inwiefern hat sich der Beruf des Konzerthaus-Direktors verändert?
JB: Wir müssen in vielem mehr Alleskönner sein. Wir müssen super sein im Marketing, vor 30 Jahren hat man eine Anzeige in der örtlichen Zeitung geschaltet, und das war’s. Heute muss man sich genaue Gedanken machen, wo Schwerpunkte liegen, wie man grafisch auftritt. Früher hat ein Intendant nicht darüber nachgedacht, Kultur oder sein Haus wie eine Marke zu definieren. Und Sie müssen perfekt sein im Finanzbereich, im Finden von Sponsoren, im künstlerischen Bereich, müssen als Dramaturg Programm-Linien entwickeln …
MB: Früher kannte man den Typ des Künstlerintendanten mit weißem Schal, den man selten zu Gesicht bekam. Heute sind wir mehr Veranstalter als Künstler, zugleich gibt es eine größere Kommunikation mit dem Publikum. Wir haben zum Beipiel die Jugendreihe »Ignition«, bei der hätte der Intendant früher seinen Dramaturgen auf die Bühne geschickt. Ich sage: Das will ich selber machen, um dem Publikum zu zeigen: Ihr seid uns das wert.