TEXT: KATJA BEHRENS
Als der römische Kaiser Trajan im Jahr 113 n. Chr. in Rom eine monumentale Säule errichten lässt, deren umlaufender Bilderfries Szenen seiner erfolgreichen Kämpfe gegen die Daker darstellt, landet er damit einen Propaganda-Coup. Die 200 Meter lange Reliefspirale erzählt nicht allein von den kriegerischen Großtaten ihres Errichters, sondern gibt nebenher auch Einblick in die Lebensumstände der einfachen Soldaten, in Kriegsbräuche, Landschaften und Gepflogenheiten. Während sie ihren Kaiser bewundern dürfen, sehen die Römer sich selbst.
Die riesige, beinah acht Meter lange und einen Meter hohe Panorama-Fotografie der Gusstahlfabrik Krupp in Essen ist – 2000 Jahre später – dito ein imposantes Szenario. Bestehend aus elf Segmenten, zeigt das lange Foto die gesamte Anlage jener frühen Schwerindustrie: Gebäude, Schornsteine, Gasometer, Schienen, Dächer, einen fernen Horizont. An den Nahtstellen ist das Bild inzwischen etwas vergilbt, die mittleren Zonen hingegen sind erstaunlich kontrast- und detailreich. Man kann fast die Mimik in den Gesichtern der winzigen Arbeiter erkennen, die hier, an einem Sonntag im Jahre 1864, Modell gestanden haben.
So wie die abgebildeten Industrieanlagen damals die Stahlproduktion perfektionierten, so ist auch ihre fotografische Darstellung im Riesenbild eine technische Meisterleistung. Denn zwar wandeln sich die Medien im Lauf der Jahrhunderte, die Motivation aber bleibt: Schon immer nutzten die Herrschenden und Mächtigen die Kraft der Bilder, um ihre Anliegen anschaulich zu machen, ihren Ruhm zu mehren und selbst nicht der Vergessenheit anheim zu fallen.
Friedrich Krupp, besessen von der Vision, den besten Stahl herzustellen und die rationellsten Fertigungsmethoden zu entwickeln, hatte im Jahre 1811 in Essen eine Gussstahlfabrik und eine »Gesellschaft zur Herstellung und Verarbeitung von englischem Stahl« gegründet. Doch erst nach der erfolgreichen Reise seines Sohnes Alfred, der 1839 unter falschem Namen die jüngsten Geheimnisse der Stahlproduktion in England ausspioniert hatte, war die richtige Materialzusammensetzung gefunden. Nun wird der Stahl hart genug, um den steigenden Anforderungen zu genügen und z. B. nahtlose Radreifen für die Eisenbahn herzustellen. Sind es in den Anfangsjahren der Industrialisierung neben Kleingerät und Werkzeugen vor allem Bergbau und Bahn, die Verwendung für die elastische Eisenlegierung anmelden, so werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Kanonen zum international begehrten Produktionsschwerpunkt der Essener Manufaktur. Der Krieg mit Frankreich 1870/71 sei vor allem aufgrund der Überlegenheit der deutschen Krupp-Kanonen gewonnen worden – dieses Ondit spiegelt den Tenor der erfolgreich gelenkten Wahrnehmung jener Zeit. Für sie spielt seit ihren frühesten Tagen die Fotografie eine zentrale Rolle.
Alfred Krupp hatte sich seit jeher für Geschichte und ihre Überlieferung interessiert, und so war ihm die Vorstellung ein Graus, die Folgen des eigenen Wirkens würden nach seinem Dahinscheiden unwiederbringlich verloren sein. In der 1861 von ihm eingerichteten »Photographischen Anstalt« weiß man von Beginn an, das neue Medium zur Dokumentation und Werbung zu nutzen, erkennt früh schon die strukturellen und konzeptuellen Möglichkeiten der Fotografie. Hugo von Werden wird Leiter der Anstalt und der erste Werksfotograf der Welt. Von nun an organisieren die Krupps die eigene Geschichte um die Bilder herum, die sie selbst in Auftrag geben, behalten Einfluss auf die Außendarstellung und bewahren die Deutungshoheit. Die neue Darstellungskunst Fotografie fasziniert. Ihre spezifischen technischen Möglichkeiten werden ausgelotet, ebenso ästhetische Prinzipien. Und so wie die frühen Panoramen und Porträt-Serien der Kruppianer, die in der Fotokunst des 20. Jahrhunderts einen Widerhall finden, wirken die Bildformate der Produktwerbung, die bei Krupp für Werbezwecke entstehen, in der Kunstfotografie von Surrealismus, Neuer Sachlichkeit und konzeptueller Fotografie fort.
Die neue Technik hilft dem fotobegeisterten Alfred Krupp, seine Leidenschaft mit dem Geschäft auf fruchtbare Weise zu verknüpfen. Aufwendige Alben mit Porträt- und Produktbildern werden zusammengestellt und den Besuchern und Geschäftspartnern aus Politik und Wirtschaft als Geschenk überreicht. Auf umgekehrtem Wege sind zahlreiche wertvolle Alben mit Reisefotografien des 19. Jahrhunderts in den Besitz der Krupps gelangt: handkolorierte Albumindrucke japanischer Geishas, Samuraikämpfer oder Teeverkäufer, tanzende Derwische, ägyptische Tempel und Dorfbewohner in bunter Tracht, Ureinwohner Nordamerikas in einer eindrucksvollen Serie von Albumin- und Silbergelatine-Drucken des kanadischen Fotografen William Notman.
1905 wird mit dem Historischen Archiv Krupp das erste deutsche Firmenarchiv gegründet, fast gleichzeitig auch initiiert Margarethe Krupp das Familienarchiv. Jetzt werden Geschäftsbücher, Akten, Filmrollen und Fotos gesammelt, Berichte und Briefe, Aufträge, Patent- und Konstruktionsunterlagen, Korrespondenzen, Lieferverträge, Lizenzen, Satzungs- und Geschäftsordnungen, Fotoalben, Reiseschnappschüsse, Porträtbilder und Familienfotos. Das Sammeln wird systematisiert, wissenschaftlich begleitet, die Entwicklungen der neuen Technik werden verfolgt. Mit dem Archiv entsteht nicht nur ein Zentrum effizienten Informations- und Wissensmanagements, das das Interesse an der Geschichte konkreten Nützlichkeitserwägungen und Kontrollfunktionen unterstellt. Nebenher wächst eine Sammlung heran, die beinah bruchlos die Geschichte der Fotografie abbildet. Den unseligen Verstrickungen der Krupps in den Nationalsozialismus geschuldet, klafft in den 1930er bis 50er Jahren eine Lücke. Aber es wird weiter fotografiert, gesammelt, archiviert, restauriert, gefördert. Bis heute.
1910 hatte die Photographische Anstalt die Anweisung erhalten, alle zum Umbau oder Abriss vorgesehen Gebäude fotografisch zu dokumentieren, da aber war schon Vieles unwiederbringlich verloren. Dass fast die halbe Stadt Essen und damit ein großer Teil ihrer Historie den neuen Fabrikanlagen hatte weichen müssen, wird oft vergessen. Und doch ist gerade dies ein bitterer Verlust – und die weitgehenden historischen Lücken im Bildarchiv sind ein wesentlicher Unterschied zum Projekt der Fotografen Hilla und Bernd Becher, die ihren Serien verschwindender Industriearchitektur einen Appell zu deren Erhaltung einschreiben.
Es ist die inzwischen zur Legende geronnene Geschichte der Firma Krupp, die jetzt, im Jubiläumsjahr 200 nach der Gründung, mit Hilfe der Fotografiegeschichte aufgerollt und mit einem großen Heimspiel gefeiert wird. Erstmals wird ein Teil des rund zwei Millionen Aufnahmen umfassenden ältesten deutschen Firmenarchivs der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Rund 400 Fotoarbeiten (d.i. 0,002 Prozent des Bestandes), die in der Ausstellung »Krupp. Fotografien aus zwei Jahrhunderten« im ehemaligen Familiensitz Villa Hügel zu sehen sind, künden von der langen, nicht immer glanzvollen Zeit der Essener Industrie-Dynastie und ihrer engagierten Förderung der Fotografie. Sie erzählen von den privaten und geschäftlichen Beziehungen, bezeugen die Aufgeschlossenheit dem neuen Medium gegenüber, dokumentieren den Aus- und Aufbau der Schwerindustrie im Ruhrgebiet und der Familienbande, geben Einblick in die internationalen Handelswege, die die Essener Produkte nahmen, präsentieren die Kruppschen So-zialeinrichtungen, sparen allerdings die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter und ihrer Familien aus. Deren Bilder existieren so gut wie gar nicht.
Stattdessen Inszenierungen und Schnappschüsse: zwei Kinder in der großen Glocke für die Georgenkirche in Berlin (1898); Kaiser Wilhelm II. in der Siedlung Margarethenhöhe; Ballonfahrertag des Niederrheinischen Vereins für Luftschifffahrt e.V. der Ortsgruppe Bochum; der Besuch des äthiopischen Kaisers Haile Selassie; die Kolonialwaren-Abteilung der Krupp-Konsumanstalt mit aufgestapelten Konsumgütern und aufgereihten Verkäuferinnen (wunderbar!); Heinrich Böll in der Werksbücherei; lachende Krupp-Arbeiter in Essen und so fort. Eindrucksvoll sind besonders die Bilder aus dem Innern der Produktion. Die Schwerindustrie liefert imposante Bilder. Man spürt förmlich das Beben der Rohre und Lüftungsanlagen, spürt die Hitze des glühenden Stahls, verstrickt sich in den undurchschaubaren Strukturen der Förder- und Fertigungsprozesse, erstarrt angesichts der dunklen Stahlkolosse. Diese Bilder entstehen zeitgleich mit Gemälden wie etwa Adolph von Menzels »Eisenwalzwerk«, eine der Ikonen des Realismus in Zeiten der Industrialisierung.
Das Erhabene, das schon in der frühen Landschaftsmalerei eine Kategorie der Überwältigung darstellt, ist auch eine Strategie der Industriefotografie geworden, wenngleich das Selbstbild, das nun entsteht, ein ganz anderes ist: konzentriert und hart arbeitende Winzlinge neben Bohrern, Pressen und Walzen statt ruhender Wanderer vor Felsen, Ruinen und Schluchten. Maloche versus Melancholie, neue Technik statt Natur und altem Handwerk, Innovation anstelle von Tradition. Die Bildstrategien der Malerei aber funktionieren weiterhin. Und auch deren Präsentationsformen: Bei einer Industriemesse (1874) wird neben einem neuen Geschützrohr aus Gussstahl ein Panoramafoto auf einer Staffelei vor samtenem Vorhang wie ein Gemälde dargeboten. Offenbar traute man dem neuen Medium alleine noch nicht die Hoheit zu, die die Malerei sozusagen von Hause aus mitbringt. Vielleicht aber war es auch das Publikum, dem man einen neuen Blick auf ein neues Medium noch nicht zutraute.
»Krupp. Fotografienaus zwei Jahrhunderten«, 18. Juni bis 11. Dezember 2011, Essen, Villa Hügel, Di–So 10–18. Tel.: 0201/61 62 90. www.villahuegel.de Katalog 24,90 Euro