INTERVIEW UND TEXT: ULRICH DEUTER
K.WEST: Warum hat man Ende der 80er Jahre eine Neuausgabe des Böll’schen Werks beschlossen und welchen Ansprüchen sollte sie genügen?
BELLMANN: Hauptanliegen war, vor allem die zahlreichen bislang unpublizierten Arbeiten aus dem Nachlass zu veröffentlichen und das mit einer Ausgabe aller schon bekannten Werke in kritisch überprüfter Textgestalt zu verbinden. Außerdem sollte dies die erste rein chronologisch angeordnete und kommentierte Ausgabe der Werke Bölls werden, mit ausgewählten Varianten sowie Hinweisen zu Entstehung und Rezeption.
K.WEST: Jetzt ist die sogenannte Kölner Ausgabe der Werke Heinrich Bölls abgeschlossen. Genügt sie den anfangs gestellten sowie den selbst gesetzten Anforderungen?
BELLMANN: Die Herausgeber haben 1998 in einer Broschüre ihre Editionsprinzipien en detail dargelegt, auch hinsichtlich der Darbietung von Vorstufen und Varianten. Misst man das Ergebnis an den selbst gesetzten hohen Maßstäben, so muss man sagen: Es wird diesen Ansprüchen nicht gerecht – in weiten Teilen jedenfalls. Die Kölner Ausgabe ist im Grunde nicht zitierfähig – Resultat einer unreflektierten Auswahl der jeweiligen Textgrundlage. Ausgewählt wurde zumeist ausgerechnet der Text, in dem eine Akkumulation aller zuvor von Neudruck zu Neudruck vermehrten Textverderbnisse vorliegt. Bei einzelnen Romanen summiert sich so die Zahl der häufig sinnentstellenden Textfehler auf bis zu 50! Betrachtet man, was nach mehr als zwölfjähriger Arbeit eines großen Teams in 27 Bänden vorgelegt wurde, wird man schon ein wenig traurig über den Umgang mit dem Böll-Erbe. Es ist schade um das investierte Geld. Und: Das hat Heinrich Böll nicht verdient.
K.WEST: Der Sprecher des Herausgebergremiums, Ralf Schnell, ist besonders stolz auf den tatsächlich sehr umfangreichen Anmerkungsapparat. Wie bewerten Sie ihn?
BELLMANN: Sein großes Manko liegt darin , dass kein einheitliches Kommentierungs-Niveau existiert. Es gab wohl keine Übereinkunft darüber, für wen – was – wie kommentiert werden sollte. Man findet Lücken und unverständliches Schweigen an Stellen, wo man einen Kommentar erwarten würde, während man an anderer Stelle Banalitäten als Erklärungen dargeboten bekommt. Beispielsweise werden »Kaplan« und »Sextaner« erklärt. Aber nicht weitaus unbekanntere Begriffe wie »Missale«, »absolvieren« (im kirchlichen Sinn) oder »den Kreuzweg abbeten«. Im Übrigen weisen die Erläuterungen zahlreiche Fehler und Flüchtigkeiten auf, bieten teilweise schlichtweg Fehlinformationen. So wird im Kommentar zum »Irischen Tagebuch« der von Böll in einem Atemzug mit Malenkow und Bulganin erwähnte KGB-Chef Serow zu Surow »verbessert« und als »russischer Schriftsteller« identifiziert. Ich hätte Dutzende weiterer Beispiele. Dem Kritiker Heinz Ludwig Arnold ist zur Qualität vieler Anmerkungen das Wort »läppisch« eingefallen.
K.WEST: Die Herausgeber sind ja nun keine fachfremden Dilettanten, sondern gestandene Professoren, z.T. renommierte Böll-Forscher. Wie erklären Sie sich diese auffallende Häufung von Schludrigkeiten?
BELLMANN: Es stimmt, die Herausgeber sind ausgewiesene Böll-Forscher. Aber es scheint mir, dass keiner von ihnen das Editionshandwerk wirklich gut beherrscht, denn sonst sind viele Fehler gar nicht erklärbar. Erschwerend kam wohl hinzu, dass es keine Redaktion, kein versiertes Lektorat gab, das normalerweise bei solchen Projekten die Editionsmanuskripte überprüft. Ein Beispiel aus »Gruppenbild mit Dame«. Dort findet der Leser die Information, dass Georg Trakl 1914 geboren und kurz darauf, am 3.11.1914, in Salzburg gestorben sei. Hätte es ein Lektorat gegeben, wäre ein solcher Unsinn nicht stehengeblieben.
K.WEST: Sie haben schon vor Abschluss der Gesamtausgabe auf Fehler in einzelnen Bänden hingewiesen. Wurden diese Hinweise berücksichtigt?
BELLMANN: Ralf Schnell hat, wie er einräumte, meine Aufsätze durchaus zur Kenntnis genommen und erklärt, da, wo die Kritik berechtigt sei, werde sie in die Errata-Liste im 27. Band einfließen. Dort fand ich aber allenfalls 20 Prozent der von mir monierten Fehler berücksichtigt. Auch das kann ich nicht nachvollziehen – in einer Ausgabe, von der ihr Herausgeber Schnell behauptet, sie genüge »wissenschaftlichen Ansprüchen auf einem hohen Niveau«. Ich hingegen sage: Die von mir durchgesehenen Bände der Böll-Ausgabe genügen nicht einmal den wissenschaftlichen Minimalanforderungen.
Der Literaturwissenschaftler Werner Bellmann ist Prof. i.R. an der Universität Wuppertal. Als renommierter Editionsphilologe, der an historisch-kritischen Ausgaben der Werke von Hugo von Hofmannsthal und Clemens Brentano mitgewirkt hat, wurde er 1989 zum Leiter der Neuausgabe der Werke Heinrich Bölls berufen. Weil sich kurzfristige Editionsinteressen der als schwierig geltenden Böll-Erben und seriöse wissenschaftliche Herausgeberschaft nicht vertrugen, zerbrach 1994 der Arbeitsvertrag zwischen der Erben-Gemeinschaft und der Universität. Ein neues Herausgebergremium um den Siegener Germanisten Ralf Schnell setzte die Arbeit fort, die Ende 2010 mit dem 27. Band der »Kölner Ausgabe« abgeschlossen wurde. Ihre Entstehung wurde vom Land und der Kunststiftung Nordrhein-Westfalen, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Bundes-Staatsminister für Kultur, der Stadt Köln u.a. in einstelliger Millionenhöhe gefördert.
Schon vor Abschluss der Ausgabe hat Werner Bellmann vier der dort edierten Böll-Texte akribisch durchgemustert und seine Ergebnisse in einer Fachzeitschrift veröffentlicht. Inzwischen konnte er in weiteren Bänden Stichproben nehmen. Die von ihm entdeckten Fehler sind so zahlreich und teilweise so haarsträubend, dass die gesamte Ausgabe in einem fragwürdigen Licht erscheint. Für den Wissenschaftler ist sie im Grunde unbrauchbar, weil er nie wissen kann, ob die Textgrundlage »zitierfähig« ist. Und der normale Leser wird sie, der hohen Kosten und des sehr umfangreichen Varianten- und Kommentarteils in jedem Band wegen, nicht kaufen. Publikumsfreundliche Leseausgaben aber lassen sich auf der Grundlage einer derart fehlerhaften Edition auch nicht erstellen. Kurz: Viel Arbeit und Steuergeld wurden in den Sand gesetzt.
Eine kleine Auswahl aus der schockgroßen Kölner Fehler-Kollektion:
In der Erzählung »Die Schwester« von 1938 in Bd. 1 der Kölner Ausgabe sagt ein hungernder Maler, er hätte seine Bilder »schon für ein Frühstück und zwei Zigaretten angegeben«. Böll schrieb gewöhnlich mit zwei Fingern in die Schreibmaschine, wer einmal ein Typoskript von ihm sah, weiß, dass es von Tippfehlern nur so wimmelt. So muss es in obigem Zitat natürlich »abgegeben« heißen: Nur so ergibt der Satz einen Sinn.
Im selben Band findet sich der frühe Roman »Am Rande der Kirche« (1939) und darin der Satz: »…die ganze scheußliche Bande von Ober-, Unterinspektoren, Weinhändlern und Regimentern recht gottloser und ekelhafter Gezeuge…«. Wo es nach sorgfältiger Entzifferung des Manuskripts heißen müsste und viel verständlicher klänge: »…Weinhändlern und Regierungsräten nebst Gattinnen und ekelhaftem Gezeuge…«.
Noch immer »steckt« sich in der Kölner Ausgabe von »Ansichten eines Clowns« der Protagonist selbst die Zunge heraus (wo es doch »streckt« heißen müsste), und immer noch »plustert« der Kaplan bei Tante Millas Weihnachtsfeier (»Nicht nur zur Weihnachtszeit«) los – während nur »prustet« einen Sinn ergibt und auch so im Erstdruck steht; nach wie vor ist »Flankenwunde« zu »Flanke unten« verballhornt (in »Besichtigung«), »Schergen« zu »Sergeanten« (in »Mein trauriges Gesicht«) und »Rieselanlagen« zu Riesenanlagen« (in »Der Zwerg und die Puppe«). Und im Essay »Glück und Glas« steht »Folge des nationalen Traumes«, wo zweifelsfrei »Traumas« gemeint (und auch so in Bölls Entwurf zu finden) ist. Im Essay »Wir Deutsche: ein fahrendes Volk« verwirrt der Satz: »…Worte, sie reißen Wände ein und richten sie auf, sie fügen sich nicht, undurchdringlich und sicher.« Tatsächlich heißt es: »…sie fügen sich dicht«, was auch so im ersten Abdruck im Tagesspiegel v. 22.9.1963 zu lesen ist.
In den in der Kölner Ausgabe Bd. 4 wiedergegebenen Vorstufen zu »Der Zug war pünktlich« steht der Satz: »Bilder, die einen langen, langen bunten und lebendigen Kreis ergeben müßten, erscheinen uns wie bloße Einzelstücke…«. Im Typoskript steht nicht Kreis, sondern »freis« (Böll schrieb in Entwürfen meist alles klein) – ein typischer Dreher. Korrekt müsste es also heißen: »Fries«.
In »Und sagte kein einziges Wort«, Bd. 6 der Kölner Ausgabe, wird von jemandem gesagt, »seine Stimme hat einen Beiklang von amtlicher Gültigkeit« – während die (maßgeblichen) frühen Ausgaben des Romans von »amtlicher Gleichgültigkeit« sprechen: wahrlich ein Unterschied. Einige Seiten später heißt es: »Ich kämmte mein Haar fest«, was Böll zu einem Beschreibungsdilettanten macht. In Wirklichkeit schrieb er: »Ich klemmte mein Haar fest« (nämlich mit einer Spange).
Verballhornt ist auch eine der schönsten Stellen in »Wo warst du, Adam?«: Über den Soldaten Feinhals, der an die von ihm getrennte Olina denkt, heißt es dort: »Oft schien es ihm, bevor er einschlief, er brauche sich nur umzudrehen, um ihren Atem zu spüren…«. Die Kölner Ausgabe macht daraus: »…um ihren Arm zu spüren« und damit die poetische Dimension des Satzes zunichte.
Heinrich Böll: Werke 1–27. Kölner Ausgabe. Herausgegeben von Árpád Bernáth, Hans Joachim Bernhard, Robert C. Conard, Frank Finlay, James H. Reid, Ralf Schnell, Jochen Schubert. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002 bis 2010. 27 Bde., 19.652 S., 942,30 €.