TEXT: ULRICH DEUTER
»Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch«, ist nicht nur ein tröstlicher Satz aus einem Hölderlin-Gedicht, sondern auch ein psychologisches Prinzip, das an dunklen Horizonten Silberstreifen heller leuchten lässt. Als darum im Herbst 2008 – die Islam-Debatte hatte das noch heute waltende Erregungsniveau erklommen, in Köln tobte eine Schlammschlacht um die geplante Moschee – ausgerechnet im Duisburger Problemviertel Marxloh fast ganz ohne Querelen ein islamisches Gotteshaus eingeweiht wurde, waren Politik, Öffentlichkeit und alle Medien gern bereit, hierin den Beweis für die Möglichkeit des Unmöglichen zu sehen. Dass nämlich Menschen sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergrunds in Deutschland friedlich miteinander leben könnten und dass der Islam dabei sei, modernefähig zu werden. Die Marxloher »Merkez«-Moschee galt als vorbildlich: zwar architektonisch nicht auf der Höhe der Zeit, aber baulich und organisatorisch transparent, da von vornherein im Dialog mit dem ganzen Viertel entstanden und mit einer interreligiösen und -kulturellen Begegnungs- und Bildungsstätte gekoppelt. Das »Wunder von Marxloh« wurde zum festen Begriff. Auch K.WEST jubelte: »Die Duisburger haben – kleinere Münze ist nicht erlaubt – eine Vision Wirklichkeit werden lassen.«
Zur Vision gehört, dass sie enttäuscht werden kann, je tiefer, je höher sie flog. Als darum gerade mal ein Jahr später die damaligen Repräsentanten der Moschee unter Warnung vor einem Rechtsruck das Handtuch warfen und die Geschäftsführerin der Begegnungsstätte aus dem Amt gemobbt wurde, war dieselbe Öffentlichkeit fast genauso schnell bereit, das Scheitern des Wunders von Marxloh auszurufen. Publicity-starke Aktionen wie der TV-Besuch Henryk M. Broders (im Rahmen seiner »Deutschlandsafari«) bestärkten den Eindruck, dass in Marxloh die Illiberalen das Ruder übernommen hatten: Broder wurde die Drehgenehmigung verweigert, und ein resoluter türkischer Patriarch verwies das Kamerateam unter Drohungen des Geländes. »Die haben eine doppelte Agenda«, hörte man Broder im Film sagen. Und war bereit, dies endgültig zu glauben, als man las, in der Moschee habe eine Trauerfeier für den Gründer der rechtsextremen türkischen Organisation »Graue Wölfe«, Alparslan Türkeş, stattgefunden, im April vor einem Jahr.
Wie so oft, liegt die Wirklichkeit zwischen Hoffen und Scheitern; ob näher an diesem oder jenem Pol, ist hier schwer zu erkennen, denn ebenso schwer ist es, das Dickicht aus Vorwürfen, Abwiegelei, Vermutungen und Beschwörungen aus dem Mund jetziger und früherer Akteure sowie von Beobachtern zu durchdringen. Zumal mehr als die Hälfte der Befragten zwar reden, aber die Hälfte des Gesagten nicht gedruckt sehen möchte. Nun ist es das eine, welche polit-religiöse Tendenz eine Moscheegemeinde nimmt – es sei denn, sie wird radikal. Davon kann hier keine Rede sein. Etwas anderes ist, was aus einer Begegnungsstätte wird, deren Bau und Betriebsstart mit Mitteln des Landes und der EU (in Höhe von 3,2 Millionen Euro) bezuschusst wurden. Hier hat die Öffentlichkeit das Recht und die Pflicht zur Kontrolle.
Viel trübes Gewölk, aber auch feste Koordinaten: Die Merkez-Gemeinde wollte von Anfang an ihrem neuen Gebetshaus eine Begegnungsstätte angliedern und dafür öffentliche Mittel akquirieren; dazu musste ein Trägerverein gegründet und ein Konzept für die geplante Bildungsarbeit erstellt werden. In deren Mittelpunkt sollten Senioren und Frauen stehen, da man hier die größten Defizite sah. Der Verein Begegnungsstätte entstand und ist unabhängig vom Moschee-Verein; als Verklammerung beider wurde eine Steuerungsgruppe eingerichtet, die sich aus den Vereinsvorständen sowie externen Beratern zusammensetzt. Nach dem Gipfelglück der Eröffnung folgten die Mühen der Ebene. Fasst man die verschiedenen Stimmen zusammen, dann muss sich im ersten Jahr, 2009, gezeigt haben, dass der damalige liberale, weltoffene Moscheevereinsvorstand um Mehmet Özay gut war, um in der Phase des Moscheebaus die interessierte und wohlwollende deutsche Öffentlichkeit zu bedienen. Als deren Neugier nach Einweihung der Moschee verebbte, setzten sich die konservativen Kräfte durch, die in der Gemeinde – wohl schon immer – die Mehrheit repräsentierten. Vorstand wurde Ende 2009 erneut Muhammed Al, der Mitglied der (vom Verfassungsschutz beobachteten) Organisation Milli Görüş sein oder gewesen sein soll und auf jeden Fall der islamisch-konservativen Partei AKP des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan verbunden ist. Seitdem wird von der Kanzel zum Besuch der Wahlveranstaltungen aufgerufen, die Erdoğan, zuletzt im Februar in Düsseldorf, abhielt. »Das gehört sich nicht für einen Moscheeverein, der hier angekommen sein will«, klagt Özay heute. Ob sein damaliger Rücktritt Frucht einer intriganten Strategie war, ist möglich; vielleicht streifte die Gemeinde aber auch nur eine falsche, zu liberale Haut ab. »Moschee-Gemeinden sind immer konservativ«, sagt Yunus Ulusoy vom Essener Zentrum für Türkeistudien dazu trocken. Wie dem auch sei, Al wurde Anfang März 2011 komfortabel als Vereinsvorstand wiedergewählt. Die Merkez- ist eine DITIB-Moschee, dort, in diesem deutschen Ableger des türkischen Religionsamtes, hat immer mehr Erdoğans AKP das Sagen; deren Leute, auch in Duisburg, kompensieren ihre selbstgemachte Angst vor dem »Assimiliertwerden« durch Abschottung und Verstärkung ihres »Türkentums«. Ihnen wird nachgesagt, sie würden sich die Begegnungsstätte am liebsten einverleiben.
Dagegen war und ist der Begegnungsstättenverein liberal; dafür garantieren als Vorstände Ismail Komsucuk, »der Marxloher Jung«, wie eine Zeitung schrieb, sowie Helga Maria Poll, die 30 Jahre lang für die CDU im Duisburger Rat saß und neben ihrer warmherzigen Resolutheit einen menschlich und politisch aufmerksamen Blick hat. Beide versuchen, ein Fahrzeug auf Kurs zu halten, dem ein Rad fehlt: Aufgrund von Bauverzögerung, naiver Kalkulation der Einnahmen sowie Unerfahrenheit beim Aufbau eines Bildungswerks verwandelten sich die knapp eine Million Euro öffentlichen Startgelds in über 100.000 Euro Schulden. Die damalige Geschäftsführerin der Begegnungsstätte, Zülfiye Kaykın, wurde vom Moscheeverein hinausgemobbt; sie ist jetzt Staatssekretärin für Integration in Düsseldorf und möchte sich zu den damaligen Ereignissen nicht äußern.
Entschieden falsch ist der Eindruck, den Broder in seiner satirischen Reportage zu erwecken suchte: dass die Begegnungsstätte so gut wie nichts tut. Sie tut ganz im Gegenteil viel. Sie organisiert qualifizierte Führungen durch die Moschee incl. Einführung in den Islam, etwas, wozu sich immer noch über 1200 Besucher pro Monat einfinden. »Wunderbar für das Viertel«, freut sich Hartmut Eichholz vom Stadtteilbüro Marxloh, denn einige Gäste kämen hernach zum Einkaufen rüber. Daneben gibt es Computerkurse, Alphabetisierungsstunden (für ältere Migranten), Lehrgänge in türkischer Musik und arabischer Kalligrafie, Fortbildungen mit Krankenschwestern in Sachen »kultursensibler Pflege« und Bewährungshelfern in Sachen muslimischer Delinquenz. Mode- und Filmabende für die türkischen Frauen des Viertels holen diese raus aus dem Familiengetto und konfrontieren sie mit anderen Lebensbildern. Neu ist ein Kurs, der mit Kindern und Jugendlichen Sprachkompetenz übt. Die Reihe ließe sich fortsetzen – das Kleinklein der täglichen Migrationssozialarbeit, unspektakulär, aber alternativlos. (Und viel zu sehr auf das türkische Herkommen fixiert.) Die Schultern, die fast all dies tragen, sind schmal und gehören Zehra Yilmaz, einer studierten Germanistin und evangelischen Religionswissenschaftlerin, nichtsdestotrotz Muslima mit schwarzseidenem Kopftuch, alleinerziehenden Mutter und eben Bildungsreferentin der Begegnungsstätte. Oben im Seminarraum sitzen 15 Frauen, von um die 20 bis vielleicht 50 Jahre alt, nur zwei davon mit freiem Haar, und üben Deutsch – unter einem pathetischen Bild des türkischen Staatsgründers Atatürk. Seit Oktober 2010 ist die Begegnungsstätte offizielle Integrationsagentur und wird, etwa fürs pflichtige Deutschlehren, von Kaykıns Arbeits- und Migrations-Ministerium bezuschusst. Erst mal bis September 2011 – und hoffentlich auch danach: In einer sehr schmallippigen »Stellungnahme« gegenüber K.WEST nimmt die Staatssekretärin »die bisherigen positiven Entwicklungen im Rahmen der (…) Begegnungsstätte zur Kenntnis«. In der Tat ist weniger die politische Ausrichtung des Herrn Al, als das Geld das Hauptproblem des Vorzeigemodells Begegnungsstätte Marxloh. Im Bistro, das einmal als der Goldesel des Betriebs gedacht war, sitzen acht alte türkische Männer und trinken Tee, der fast nichts kostet. Auch die Moscheeführungen sind – eine Sache islamischer Ehre – kostenlos. (Die Kosten trägt die Essener Mercator-Stiftung.) Raumvermietung, Drittmittelakquirierung – all dies klappt nicht recht. Weil Einnahmekonzepte fehlen, bleiben Dialog- und Integrationsarbeit auf ihrem unspektakulären Niveau. Und der Moscheeverein lässt die Begegnungsstätte, sein »Kind«, finanziell hungern. Für den Bau der über 4 Mio. Euro teuren Moschee hingegen hatte er bzw. die DITIB Geld.
Kurz: Das Selbstverständnis des Moscheevereins und das der Begegnungsstätte passen nicht zusammen. Also behakeln beide sich. Und müssen doch miteinander auskommen: »Ich sehe keine Alternative. Alle müssen zu ihrer Verantwortung zurück«, rät dringend auch Leyla Özmal, Integrationsbeauftragte der Stadt Duisburg und Mitglied der erwähnten Steuerungsgruppe. Sie gibt sich diplomatisch, mahnt aber auch: »Der Moschee-Gemeinde muss bewusster werden, dass die Begegnungsstätte in ihrer Verantwortung steht. Und dass sie mit ihr in einen partnerschaftlichen Dialog treten muss.« Dass dies geschehen wird, dafür sieht Helga Maria Poll, so kritisch sie ist, frühlingshafte Anzeichen. Tatsächlich, wenn Verstand, Glück und etwas mehr Geld sich vereinigten, könnte Merkez gelingen – will sagen, ein ganz normales Gemeindezentrum werden, nicht anders als auch die christlichen Kirchen sie betreiben. Wunder nämlich geschehen auch in Marxloh nicht.