TEXT: ANDREAS WILINK
Das Leben ist laut, schmutzig, vulgär, brutal, grausam. Es hat keinen Plan, ist ein Neben-, Gegen- und Durcheinander. Das Leben ist das Leben – in den Filmen des Mexikaners Alejandro González Inárritu. Auch in seinem vierten, obwohl »Biutiful« nicht wie »21 Gramm« und »Babel« die Welt in Splitter zerlegt und wieder zusammensetzt, so dass man sich an ihren scharfen Kanten schneiden könnte. »Biutiful« hat nur eine einzige – wuchtige, finstere, emotional kraftvolle – Geschichte, in die sich die Kamera förmlich hinein frisst, verbeißt und bohrt. Und nur einen Hauptdarsteller, Javier Bardem, oder richtiger: eine Person, dazu aber noch den Ort, an dem dieser Mann lebt – und stirbt: Barcelona im Winter.
Es ist ein Gegen-Spanien zum Land der Frauen Almodóvars – in seinem Schmelz, seiner Trieblust, der Exzentrik des Dekors und den Regenbogenfarben. Bei Inárritu sieht die Stadt nass, kalt, grau und verkommen aus. Manchmal nur weitet sich die Perspektive, das steinerne Häusermeer breitet sich aus und das Mittelmeer erscheint am Horizont, sogar mit der Bordüre eines schönen Sonnenuntergangs.
Der Kleinkriminelle Uxbal, der dealt und mit Menschen und Waren hehlt, hat Krebs im letzten Stadium. Seine zwei Kinder wohnen bei ihm: in einem Loch, wo Kakerlaken an den Wänden hängen. Der Versuch, es mit Marambra, der alkoholabhängigen Mutter von Ana und Mateo, noch einmal zu probieren, scheitert. Wie alles andere auch. Als würde Uxbal egal, was er auch anfasst, zum Bösen ausschlagen. Ein Verlorener. Uxbal verleiht schwarz illegal untergetauchte Chinesen – die Männer, Frauen, Kinder, Alten werden an einer Gasvergiftung ersticken, weil Uxbal schadhafte Öfen in ihrem Elendsquartier installiert hat. Sein Handel mit einem korrupten Polizisten geht schief, in dessen Folge ein ebenfalls illegaler Afrikaner in den Senegal abgeschoben wird, währenddessen Frau und Baby zurückbleiben. Sie ziehen bei Uxbal ein.
Uxbal will nicht dem Gesetz des Tigers gehorchen, der heute die ihn fütternde Hand leckt und morgen den Wärter zerreißt. Uxbal will nicht nur Natur und Instinkt sein, sondern ein Mensch mit Gewissen, will Gnade erlangen, Schuld abtragen.
Er hat das zweite Gesicht, mit dem er Verstorbenen ihre Gedanken abzulauschen vermag, wofür er von den nach Botschaft verlangenden Angehörigen Geld kassiert. In seinen Träumen taucht sein jung verstorbener Vater auf, der einst vor Franco geflohen war und dessen Leiche nun umgebettet und verbrannt werden muss, da der Friedhof eingeebnet wird. Dunkle Zeichen und Vogelflug am Himmel: Wie in einem Gedicht von Gottfried Benn türmen sich Bilder, Schatten, Ahnungen, letzte Gewissheiten. Inárritu ist zwar ein realistischer, soziologisch orientierter Erzähler, aber er begnügt sich nicht mit der krassen Wirklichkeit, sondern lässt sie sich überspannen von einer höheren Ordnung.
»Biutiful«; Regie Alejandro González Inárritu; Darsteller: Javier Bardem, Maricel Alvarez, Hanaa Bouchaib, Guillermo Estrella; Mexiko/USA 2010; 147 Min.; Start: 10. März 2011.