TEXT: STEFANIE STADEL
Man traut sich kaum hinzuschauen. Kneift die Augen vorsichtshalber ein wenig zusammen. Vielleicht blendet sie ja doch – die gleißende Sonne auf dem heftig reflektierenden Chromgehäuse. Ralph Goings‘ Gemälde macht den Wohnwagen in der Pampa zum echten Spiegelwunder – das ganze öde Drumherum zeichnet sich darauf ab. Die graubraune Ebene, der blaue Himmel; und viel Sonne von links. Sie steht offenbar schon recht tief am Himmel, sonst wäre der Schatten neben dem glänzenden Gefährt nicht so groß und so dunkel. »Ich weiß schon, dass es irgendwie eine Masche geworden ist, Lichtreflexe zu malen«, bemerkte der Maler dazu. »Aber das macht auch Spaß!«
Goings gehört zu jenem unverbundenen Clübchen von US-Künstlern, die sich gegen Ende der 60er Jahre daran machten, mit besessenem Blick, fotografischen Vorlagen und sagenhafter Akribie die Realität des amerikanischen Alltags in ihrer Kunst neu zu entdecken. Wider alle Trends – wie es scheinen könnte – kehrten sie zurück zum Tafelbild, zur meisterlichen Malerei. Und zum gegenständlichen, oft ziemlich banalen Motiv: Shops, Autos, Straßen.
In ihrem Sammeleifer haben Peter und Irene Ludwig damals in den USA auch bei dieser Neuigkeit zugegriffen. Neben der Pop-Art, für die ihre Kollektion so bekannt und geschätzt ist, kauften sie sehr früh Werke jener Sparte, die heute meist unter Überschriften wie Hyper- oder Fotorealismus läuft und ihre Rolle, ihren festen Platz in der Geschichte nach vier Jahrzehnten offenbar noch immer nicht recht gefunden hat.
Die polierten Trucks, die schmucklosen Schnellrestaurants, die menschenleeren Stadtlandschaften und die chaotisch komponierten Leuchtreklamen. Die bonbonbunten Schuhe in Don Eddys wie verrückt spiegelndem Schaufenster. Die kleine Welt der amerikanischen Durchschnittsfamilie, fixiert von Robert Bechtle. Kann man das alles in eine Nische räumen, an der die restliche Kunstentwicklung vorbeirauscht?
Steckt hinter den hochglänzenden, leicht lesbaren Großformaten nichts als marktgerechtes Imponiergehabe? Sind die Werke »unzeitgemäß« in ihrer Rückbesinnung auf den Gegenstand und auf handwerkliche Perfektion? Sind sie stumpf in der akribischen Reproduktion fotografischer Vorlagen, die oft in langwierigen Prozeduren mit Hilfe eines strikten Rasters oder einer Projektion auf die Leinwand übertragen werden?
Oder sind sie topaktuell, weil sie das Wesen und die Glaubhaftigkeit medial vermittelter Bilder in Frage stellen – indem sie eben nicht die Wirklichkeit, sondern ihr fotografisches Abbild als Ausgangspunkt wählen? Zu überlegen wäre auch, ob nicht auch Distanz und Kritik mitschwingen in den coolen, cleanen Szenerien des amerikanischen Alltags. Vielleicht verbirgt sich ja hinter der polierten Perfektion, ganz abgesehen vom Motiv, auch ein brisanter Diskurs über die Malerei.
Aachen ist nun wohl der richtige Ort, um solchen Fragen auf die Spur zu kommen. Zum 20. Geburtstag und in Kooperation mit den Ludwig-Museen in Wien und Budapest geht das Ludwig-Forum dort das Thema Fotorealismus an und stützt sich dabei fast ausschließlich auf den umfangreichen, weit verstreuten Fundus der beiden inzwischen verstorbenen Aachener Großsammler.
Goings spiegelndes Wohnwagen-Spektakel ziert das Cover des dicken Gemeinschaftskatalogs, darauf in silbernen Lettern der Titel »Hyper Real« glänzt. Die Ludwigs haben einiges zusammengebracht auf diesem Gebiet. Vielsagende Beispiele bietet etwa Chuck Close, der seit vier Jahrzehnten immer das Gleiche malt: menschliche Gesichter, monströs aufgeblasen und fast immer frontal in Szene gesetzt.
Die Psyche des Porträtierten interessiert ihn dabei wenig. Er seziert nicht die Person, sondern immer nur ihr fotografisches Abbild. Stückchen für Stückchen: »Wenn einen das Ganze überwältigt, wenn man nicht weiß, wie man die Nase darstellen soll, muss man es eben lassen«, so Close. »Dann muss man die Nase auf hundert kleine Einzelteilchen reduzieren und der Reihe nach die Darstellung erst des einen Teilchens, dann des anderen lösen.«
Als Spezialist für Schaufenster, Straßendetails, New Yorker Stadtlandschaften zeigt sich dagegen Richard Estes. Seine Bilder sind angefüllt mit optischen Phänomenen – Spiegelungen, Lichtreflexe, Verzerrungen – und eigentlich gar nicht wirklich »realistisch«. Denn Estes nutzt die Malerei, um die Möglichkeiten der Fotografie aufs Äußerste zu überspitzen. Er reinigt seine Bilder von störenden Teilen und fügt Passendes hinzu. Egal ob fern oder nah – jedes Detail scheint in seinen künstlichen Kompositionen extrem scharf erfasst, alles in eine metallische Klarheit getaucht.
Doch fahren Brigitte Franzen als Museumsleiterin und Anna Sophia Schultz als Kuratorin in der Aachener Ausstellung weit mehr als nur Fotorealistisches auf. Der Gefahr trotzend, sich in der Masse zu verlieren, unternehmen sie den ehrgeizigen Versuch, auf einen Schlag ein Gefühl vom Großen und Ganzen zu vermitteln. Mit rund 250 Werken von etwa 100 Künstlern ziehen sie ihre Runden durch die amerikanische Kunstlandschaft um 1970. Daneben werden das kulturelle Drumherum und zeitgeschichtliche Hintergründe angesprochen. Am Rande dann noch internationale Kunstströmungen berücksichtigt, etwa der französische Nouveau Réalisme und ebenso Fragen der Rezeption des neuen Stils daheim wie anderswo.
In Europa wurde der neue Realismus made in USA ziemlich schnell publik. Dank Harald Szeemann, seiner documenta 5 von 1972. Und Dank des Ehepaars Ludwig, das damals wichtige Werke nach Kassel schicken konnte. Die erste Begegnung des hiesigen Publikums mit den haarscharfen Amerika-Bildern entfachte sofort eine rege, recht kontroverse Debatte.
Da gab es Aufatmen bei weiten Teilen des breiten Publikums, das sich nach einem Dezennium der Unsicherheit, in dem praktisch alles möglich geworden war, wieder erfreuen wollte an vermeintlich leichter, leicht zugänglicher Kunst, deren Schöpfer mit meisterhaft geschulter Wahrnehmung und für jeden als virtuos erkennbaren technischen Fertigkeiten auftrumpfen konnten. Vorbehalte dominierten dagegen in der Szene, der das Attraktive, unmittelbar Ansprechende dieser Werke suspekt war. Wie wohl der Realismus überhaupt, wegen seines konservativen Beigeschmacks. Und vielleicht auch mit Blick auf seine Varianten in der Kunstdiktatur des Dritten Reichs und im Sozialistischen Realismus sowjetischer Prägung.
Nach dem großen Sturm der Diskussion ist hierzulande sehr schnell die völlige Flaute eingekehrt. Kaum noch jemand hat über den amerikanischen Hyperrealismus geschrieben oder gesprochen. Als die Berliner Guggenheim-Dependance 2009 unter dem Titel »Picturing America« gut 30 fotorealistische Musterbeispiele aufbot, war das die erste deutsche Ausstellung zum Thema – nach fast drei Jahrzehnten.
Die Ludwig-Häuser in Wien, Aachen und Budapest ziehen nun nach. Gehen die Sache allerdings völlig anders, sicher auch weniger affirmativ an. Bei der ersten Station in Wien war, ausgehend von den 70er Jahren, ein Bogen bis hin zu realistischen Tendenzen in der Gegenwart gespannt worden. In Budapest, wo die Schau ab Juli zu sehen sein wird, ist erstmals eine Gegenüberstellung amerikanischer und osteuropäischer Realismen geplant.
Mit dem Versuch, den Hyperrealismus in der amerikanischen Gesellschaft und Kunstentwicklung seiner Zeit zu verankern, beschreitet auch Aachen neue Wege. Zwar lässt sich, noch dazu aus der gewonnenen zeitlichen Distanz, sagen, dass die Hyperrealisten damals sicher nicht zur Avantgarde zählten. Auch erweist sich die Stilströmung mit Blick auf die Entwicklung ihrer Vertreter eher als Sackgasse, denn als Startpunkt für weiterführende künstlerische Ideen und Untersuchungen.
Trotzdem, dies macht die Aachener Werkauswahl sehr deutlich, besetzt der Hyperrealismus durchaus keine Nische in der damaligen Kunstlandschaft jenseits des Atlantiks. Er ist fest eingebunden in das Geschehen. Und steht mit seiner beinahe besessenen Aneignung der amerikanischen Wirklichkeit nicht alleine da. Einen schlagenden Beweis dafür liefern in
Aachen etwa die erstmals in Verbindung mit dem Fotorealismus präsentierten New Topographics – Fotografen, die sich weniger bunt und glänzend, aber ähnlich obsessiv wie die malenden Kollegen jenen Örtlichkeiten widmen, wie man sie nur in den USA findet.
Selbst in Arbeiten von Konzeptkünstlern wie Dan Graham oder Ed Ruscha kann die Schau jenes intensive Interesse am eigenen Land aufzeigen. Daneben sind natürlich auch jene, in Ludwigs Sammlung so prominent vertretenen Stars der Pop-Art in der Ausstellung reichlich vertreten. Warhol, Johns, Rauschenberg, die kurz vor den Hyperrealisten begonnen hatten, den amerikanischen Alltag in ihre Kunst zu transportieren.
Mit ganz anderen Ergebnissen natürlich: Sie machen es einem leichter, legen es auf Austausch an, bauen nicht selten ironische Brücken. Die glänzenden, scharfen, spiegelnden, superperfekten Oberflächen der Hyperrealisten wirken dagegen eher wie Barrieren. Man kann die phantastischen Reflexe auf dem Wohnwagen bewundern. Auch die Spiegelungen in den Schaufenstern, die haarscharfen Runzeln auf der Stirn. In Aachen lernt man diese Bilder mehr zu schätzen – als sprechende Produkte ihrer Zeit. Als zuweilen wohl nicht unkritische Bilder des »American way of live« sind sie interessant. Vielleicht ist es ja ihre abweisende Oberfläche, die den Blick auf weitere Reize verwehrt.
13. März bis 19. Juni 2011. Ludwig Forum für internationale Kunst, Aachen. Tel. 0241/1807104; www.ludwigforum.de