TEXT & INTERVIEW: GUIDO FISCHER
Es gibt Sänger. Und es gibt Countertenöre. Zumindest galt diese Unterscheidung bis vor kurzem noch in Weltgegenden, wo Männer mit glockenreiner Alt-Stimme wie Wesen von einem anderen Stern beäugt wurden. Diese Erfahrung hat auch Andreas Scholl gemacht. Als er als erster Countertenor überhaupt in Kuala Lumpur gastierte und Barock-Arien sang, begann plötzlich das Publikum zu lachen. Damals nicht eben animiert von der Reaktion, kann Scholl mittlerweile darüber schmunzeln. Zumal jedes Auditorium auch in exotischen Ländern jetzt mucksmäuschenstill ist, wenn der Zwei-Meter-Mann das Podium betritt, sich kurz sortiert und mit seiner magischen Vokal-Hydraulik Musik in einen Schwebezustand versetzt.
Seit fast zwanzig Jahren bewegt sich der 43-jährige Scholl künstlerisch in Sphären, in denen sogar für manch einen seiner Stimmkollegen die Luft dünn wird – und dies mit einem Kernrepertoire, das von schwermütigen Songs aus dem elisabethanischen Zeitalter bis zu italienischen Barock-Arien und Händel-Opern reicht.
Nun aber hat Scholl sich erstmals mit Henry Purcell ausführlich beschäftigt, einem Barock-Komponisten, der bereits während Scholls Studienzeit an der renommierten Baseler Schola Cantorum Basiliensis auf dem Stundenplan stand. Doch nicht nur musikalisch ist er zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Nachdem Scholl lange in Basel gelebt hat, ist wieder in den Rheingau gezogen. In seinem Heimatdorf Kiedrich hat sich der Sohn einer Winzerfamilie ein Anwesen ausgeguckt, das zudem noch auf einem ehemaligen Weingut steht.
K. WEST: Wir sitzen hier wie im Paradies für Genießer von deutschem Riesling. Sie kennen wohl noch jede Rebe aus Ihrer Kindheit?
SCHOLL: Unsere Familie ist noch im Besitz von Weinbergen, die mittlerweile verpachtet wurden. Darunter gibt es einen alten Weinberg, auf dem ich zusammen mit meinem Großvater und meinem Bruder sämtliche Arbeiten erledigt habe. Auf den Flaschenetiketten steht zwar heute nicht »Scholl«, sondern »Wein von alten Reben«. Aber es ist schön, wenn man ihn trinkt und weiß, dass er von eben diesem Weinberg stammt.
K. WEST: Wein und Gesang werden ja gern in einem Atemzug genannt – wie klingt die Musik Henry Purcells durchs Weinglas betrachtet?
SCHOLL: Wenn man bei einem Wein genau hineinschmeckt, kann man zwar seine einzelnen Elemente entdecken. Doch sie alle sollten sich zu einem harmonisch großen Ganzen verbinden. Es ist wie in der Musik und gerade bei Purcell – ein komplexer Wein, der doch ungemeine Harmonie in sich trägt.
K. WEST: Purcell ist aber wenn, dann doch wohl ein Roter…
SCHOLL: Hmh, mein Lieblingswein ist der Kiedricher Riesling. Als Lokalpatriot dürfte ich keine andere Rebsorte nennen. (lacht)
K. WEST: Purcell ist in die Musikgeschichte als Orpheus Britannicus eingegangen. Was ist das Orphische bei Purcell?
SCHOLL: Wenn man Werke anderer bedeutender Komponisten analysiert, stellt man fest, dass sie sehr raffiniert und sehr durchdacht sind. Dann gibt es aber eben auch Komponisten, die mit geringsten Mitteln direkten Zugang zur Seele schaffen. Dieses Anrühren mit Musik, Händel beherrschte es natürlich. Und bei Purcell fallen einem auf Anhieb Stücke ein wie die Abschiedsarie der Dido aus »Dido and Aeneas«. Sie wird normalerweise von einem Mezzosopran gesungen. Aber zum Glück gibt es keine Stil-Polizei, die mir einen Strafzettel ausstellt, bloß weil ich jetzt ein Stück singe, das nicht für Countertenor komponiert wurde. In der Arie geht es um das rein Menschliche: Jemand nimmt Abschied in einer tief tragischen Situation. Transportiert wird ein universelles Gefühl, das jeder kennt und das man in jeder Stimmlage ausdrücken kann. Purcell hatte wie Händel nicht nur die kompositorische Qualität, sondern auch diese Seelenqualität. Genau das wäre zu verstehen unter Orpheus Britannicus.
Für seine Auswahl an Songs und Arien aus »King Arthur« und »Fairy Queen« hat sich Scholl überraschenderweise nicht mit einem englischen Spezialisten-Ensemble zusammengetan. Wieder war es die italienische Accademia Bizantina, mit der er schon lange arbeitet, etwa seit den Porträts des einstigen Super-Kastraten Senesino oder jenes römischen Komponistenbundes, der Anfang des 18. Jahrhunderts mit pastoralen Klangbrisen dem antiken Lebensideal huldigte. Im Gegensatz zur eher akademisch korrekten Aufführungspraxis, wie sie englische Alte Musik-Ensemble pflegen, ist der Sound der Italiener runder und wärmer. Dafür sorgt nicht zuletzt eine vollere Besetzung, die Puristen zwar als »unhistorisch« qualifizieren werden. Doch Scholl zweifelt, ob die Methode, wie vor drei Jahrhunderten gespielt wurde, heutige Hörer noch erreichen und berühren würde.
K. WEST: In Ihrem Purcell-Programm taucht auch der berühmte »Cold Song« auf, den Sie Klaus Nomi widmen, dem exzentrischen Pop-Countertenor, der 1983 an Aids gestorben ist.
SCHOLL: Tatsächlich habe ich den »Cold Song« zum ersten Mal von ihm gehört, als – man wundert sich – ein privater Fernsehsender jeden Abend zum Sendeschluss Klaus Nomis Version spielte. Es gibt zudem auf Youtube ein Video von ihm aus einer französischen TV-Show und aus einer Zeit, als Countertenöre noch nicht so bekannt waren. Nomi betrat da ganz steif in seinem Kostüm und Make-up die Bühne und sang den Song mit eiserner Intensität. Das Publikum explodierte danach. Was an der Musik lag, aber auch an diesem Interpreten. Er war ein großer Künstler, der nie die Chance hatte, sein Potenzial ganz zu entwickeln.
Zwei Countertenöre, beide aus Frankreich stammend, bewundert Scholl gleichfalls. Den um zehn Jahre jüngeren Christophe Dumaux, mit dem er sein Debüt an der New Yorker Met in Händels »Rodelinda« gegeben hatte, lud er zu den Purcell-Aufnahmen für einige Duette ein. Und Ende vergangenen Jahres hat Scholl mit Philippe Jaroussky eine kleine Purcell-Tournee absolviert.
SCHOLL: In der Counter-Szene kennt man sich halt untereinander. Das Schöne ist, dass wir uns mögen und niemand rumzickt. Ich nahm mal an einem Countertenor-Wettbewerb teil, bei dem sich die fünf Finalisten in einem Raum umziehen mussten. Plötzlich meinte ein brasilianischer Kollege: Stellt euch vor, hier wären fünf Sopranistinnen, die hätten sich schon die Augen ausgekratzt. Christophe Dumaux ist ein cooler Typ. Und Philippe Jaroussky einfach ein toller Kollege. Das muss man neidlos anerkennen. Für mich ist wichtig, sich als Musiker nicht an denjenigen zu orientieren, die weniger gut sind. Man muss sich immer mit den Besten messen – nicht im Wettstreit, sondern um an sich selbst zu arbeiten.
Andreas Scholl singt Purcell: 18. Februar 2011, 20 Uhr, Kölner Philharmonie; www.koelner-philharmonie.de