Martin Schläpfer, seit der Spielzeit 2009/2010 Chefchoreograf und Direktor des »Balletts am Rhein«, wurde 1959 im schweizerischen Altstätten geboren. Er war zunächst ein sehr beachteter und erfolgreicher Tänzer, vor allem beim Basler Ballett, bevor er vier Jahre lang eine eigene Ballettschule führte und 1994 als Direktor ans Berner Ballett berufen wurde. 1999 vergrößerte und formierte er die Kompanie am Stadttheater Mainz, die als »ballettmainz« bald begeistertes Echo fand – am Ort und weit darüber hinaus.
Das Prinzip seiner Programmgestaltung führt Schläpfer, der bei der Kritiker-Umfrage des Ballett-Magazins Tanz zum »Choreografen des Jahres 2010« gekürt wurde, am Rhein fort und stellt Abende aus mehreren Werken zusammen – Neueinstudierungen und Uraufführungen. Bislang bot das neu benannte Ballett am Rhein sechs Programme auf, b.01 bis b.06.
Beim Termin mit Schläpfer steht, wie zum Zeichen von Konstruktion und Werden, im nachmittäglich leeren Düsseldorfer Opernfoyer eine Leiter. Ab und zu dröhnt Mozarts »Zauberflöte« durchs Haus, das Bruchstück einer Arie, begleitet von einem fordernd lauten Klavier.
Schläpfer hat eine eigene Art zu sprechen. Nicht nur erweicht sein Schweizer Akzent Konsonanten auf dem Weg vom einen zum anderen Wort. Oft wechselt er ins Englische, das ist nun mal so beim Umgang mit einem internationalen Ensemble und zeugt auch vom Spiel mit klanglich-semantischen Farbwechseln. Früher sei ihm das Reden überhaupt sehr schwer gefallen, bekennt er. Darin hat er sich verändert.
K.WEST: Wie blicken Sie zurück auf den großen Erfolg der ersten Spielzeit?
SCHLÄPFER: Es war schon ein Glücksfall. Damit hatten wir nicht gerechnet. Natürlich bin ich froh, dass es gut gegangen ist. Aber es ist erheblich schöner, in der zweiten Spielzeit zu sein. Ich habe nicht permanent diese unglücklichen Tänzer, die noch nicht da, noch nicht dort sind. Auch ich weiß besser, wer was macht, an wen ich mich wenden kann. Man hat einfach mal den Anfang gemacht. Jetzt wird’s schwieriger.
K.WEST: Welche Position hat für Sie das Ballett am Rhein in der Tanzlandschaft Nordrhein-Westfalen?
SCHLÄPFER: Natürlich sind wir das größte Ensemble im Moment, aber ich finde nicht, dass man deswegen eine Alphafunktion übernehmen müsste. Ich beginne jetzt, mich umzuschauen bei anderen Kompanien und Häusern und Dingen, wo es nicht nur um Tanz geht.
K.WEST: Sie beschreiben Ihre Spielplangestaltung als ein Spannungsgefüge zwischen suchendem Nach-vorne-Gehen und dem Wissen, woher man gekommen ist. Sie stellen also neuere Werke neben solche einer Art gültigen Tradition. Immer wieder sind Sie dabei auf den »Grünen Tisch« von Kurt Jooss von 1932 zurückgekommen.
SCHLÄPFER: Ich fand es ein wichtiges Stück. Es tut den Tänzern gut, weil sie über sieben Wochen in eine Rolle rein müssen. Ich habe das mal so formuliert: Nicht der Schritt transportiert die Bedeutung, sondern es ist mehr die Rolle, die die Schritte erschafft. Klingt hochtrabend, aber teilweise ist das so. Ich habe einmal Jooss getanzt und fand es das schwierigste meiner ganzen Karriere. Vielleicht war das bei Jooss damals ganz anders. Aber Anna Markard, seine Tochter, hat das Werk verteidigt und es so gemacht, wie sie dachte, dass es sein sollte. Es gibt ja eine Debatte über das Original – für sie heißt das: Nicht abweichen!
K.WEST: Sie haben ein paar Werke von George Balanchine ins Repertoire genommen. Sind die also über jeden Zweifel erhaben?
SCHLÄPFER: Sehr wenige Stücke von ihm. »The Four Temperaments«, wenn es sehr gut getanzt ist. Oder »Agon«, das mache ich nächstes Jahr. Das geht. So entschlackt, das ist die Krone. Vielleicht noch »Concerto Barocco«, »Violin Concerto« oder »Episodes« in seiner spröden Art. Viele nicht – außer man verfügt über das Physische bei den Tänzern, wo dann alles möglich ist. Grundsätzlich finde ich es schwierig, richtig zu planen. Es ist auch notwendig, dass ich ein bisschen weniger mache.
K.WEST: Sie brachten fast alle Ihre Tänzer aus Mainz mit, haben einige vom Vorgänger übernommen und etwa ein Drittel neu engagiert. Wie hat sich die Kompanie entwickelt?
SCHLÄPFER: Es gibt gewisse Rollen, bei denen ich noch tendenziell zu Tänzern hinstrebe, die lange mit mir gearbeitet haben – gerade wenn es sehr fein sein muss oder nuancenreich. Aber ansonsten ist das Ballett hier ein neuer Körper geworden. Eine super Kompanie. Mit einer guten Stimmung.
K.WEST: Zwar suchen viele Tänzer Engagements, aber Sie beklagen, dass die meisten nicht gut genug ausgebildet sind.
SCHLÄPFER: Das Niveau der Schulen ist zu niedrig. Teach them right! Wie Tänzer sich einwärmen müssen, dass sie wissen, wie sie sich ein Training an der Stange geben, dass man sich abkühlt danach usw. Sie wissen zu wenig. Sie benutzen den Körper wie einen Gebrauchsgegenstand, statt ihn wie ein Instrument zu pflegen. Hinzu kommt die Diskrepanz, dass viele Lehrer die Choreografen, wie ich einer bin, nicht lieben. Sie unterrichten retro. »La Sylphide« ist Teil der Tanztradition und der Kunst und soll es bleiben, aber kann nicht die Zukunft des Tanzes sein. Ich habe manchmal das Gefühl, solche Lehrer stellen gegen die sogenannten Klassischen wie mich immerzu die Behauptung auf: Schade, dass es nicht mehr so ist wie früher.
K.WEST: In einer Offenen Probe konnte man hören, wie Sie vom Pianisten »mehr rechte Hand« wünschten, aber keine Taktangabe machten.
SCHLÄPFER: Beim Tanz-Begleiten geht es nicht mehr um Melodie oder Rhythmus, sondern das Klavier muss unterstützen. Ich selbst ging durch eine ganz harte Schule – welche Musik für welches Gebiet! Heute sehe ich das anders. Vor allem diese Rhythmik-Dominanz nervt mich, weil sie vermeintlich so sicher macht. Der Tänzer hört gar nicht mehr hin. Ich behaupte das Gegenteil: Give me stretch in the rhythm! So müssen sie auf die Musik hören.
K.WEST: Waren Sie früher duldsamer mit den Tänzern, sind Sie kritischer geworden?
SCHLÄPFER: Früher dachte ich, professionelle Tänzer wüssten es, tun’s nur nicht, weil sie jetzt müde sind. Aber sie haben es nicht gelernt, wurden nie gefragt, warum sie etwas tun. Jetzt sage ich: Why do you do it? Zu häu-fig kommt keine Antwort. Es wäre wichtig, dies schon bei den Kindern zu fragen und entsprechend zu analysieren. Es geht doch um mehr, als ums Nachmachen. Man kann nicht jeden ausbilden. Die Muskeln werden falsch eingesetzt. Neben der Gesundheit gibt es den anderen Aspekt, das Dynamische, das Musikalische. Der Wechsel von Metall und Butter ist nicht da. Immer one – and – two – three – and – four. Oft so saftlos und unsinnlich. Das reicht heutzutage nicht, denn es gab Balanchine.
K.WEST: Auf der Bühne setzen Sie Sprache kaum ein. Im »Forellenquintett« aus b.06 – der letzten Premiere – etwa beginnt ein Tänzer das Gedicht »In einem Bächlein helle« vom Blatt abzulesen und bricht nach ein paar Zeilen ab. Als wolle er sagen: Es hat keinen Sinn.
SCHLÄPFER: Ja, absolut so. Ich glaube, meine Stücke sind eher dort angesiedelt, wo es um Qualitäten geht im Dialog unter Personen, aber nicht als gesellschaftliches Thema. Für einen Text bräuchte ich einen Grund. Aber dass jemand einen Text liest und ich dazu choreografiere, das könnte ich mir ganz gut vorstellen.
K.WEST: Brahms’ »Deutsches Requiem«, das in Ihrer Choreografie im Juli 2011 Premiere haben wird, basiert hingegen auf Sprache.
SCHLÄPFER: Natürlich ist das ein Text, aber vor allem ist es ein Zustand. Ich finde, dadurch, dass die sakrale Musik mit dem Text sich so erhöht, ist darunter wieder alles frei.
K.WEST: Was lesen Sie gerade?
SCHLÄPFER: Ein Buch über Rosemarie Nitribitt, die in Düsseldorf begraben wurde. Dann lese ich Rüdiger Safranskis Buch über die Romantik. Curries »Gott ist tot« habe ich noch nicht begonnen. Außerdem zwei russische Ballettbücher, Zeitung, das Schumann-Buch von Peter Gülke. Und dann liegt da noch Jonathan Franzens »Freiheit«. Schläpfer legt die Hände auf zwei imaginäre hohe Stapel. Ich muss im Moment auch lauter Vorschläge für Sonderveranstaltungen mit dem Ballett überdenken. Man soll nicht alles auf einmal machen. Ich nehme mir Zeit.