TEXT: ULRICH DEUTER
Das »Essence« ist ein Club in Essens nördlicher Innenstadt. Da wo samstagabends ab zehn der Dancefloor zittert, haben sich an Sitz- und seltsam pelzumrandeten Stehtischen etwa 50 Menschen eingefunden, um kleinen Selbstdarstellungsakten beizuwohnen. Doch auf der Bühne zieht sich niemand aus, wie in der »Essence«-Erotikshow ab ein Uhr nachts der Fall. Jeder stellt sich nur vor: Was er so macht und kann. »Creative Stage« heißt die Veranstaltungsreihe, in der »Kreative« einer Stadt im Pecha Kucha-Verfahren sich selbst oder ihre kleine Firma präsentieren, die Wirtschaftsförderungen Bochum, Essen, Dortmund, Duisburg haben sich das ausgedacht. In Dortmund kommen zu so einem Abend schon mal 200 Interessierte; die Kulturhauptstadt-Kapitale zieht da erst nach. Auf die erste »Creative Stage Essen« Ende September 2010 klettern ein Foto- und ein Produktdesigner, der Spiritus Rector eines Ruhrgebiets-Foto-Comics, die Jungs einer Event-Agentur und die junge Frau einer Szene-Website und machen mit unterschiedlicher Begabung maximal zehn Minuten lang Werbung für sich, per Beamer, versteht sich. Die adressierten Zuschauer sind Kollegen, so ist es gedacht, »Creative Stage« dient der Beziehungsanbahnung, sind doch die »Kreativen« lauter Lonely Hearts, die dringend zueinander finden sollen.
1992 ließ die Landesregierung eine erste Untersuchung erstellen, um einem damals neuen Phänomen auf die statistische Spur zu kommen: der wachsenden Zahl ökonomischer Wertschöpfungsketten, deren erstes Glied ein kreativer Akt ist. Das war der Beginn regelmäßiger »Kulturwirtschaftsberichte«, deren jüngster, fünfter, aus 2008 datiert. Die jeweils mit einem etwas anderen Fokus ausgestatteten Reporte ergaben einen dynamischen Markt mit relevanten Umsätzen und einer beachtlichen Beschäftigtenzahl. Wobei anfangs unter dem Begriff Kulturwirtschaft die ökonomischen Folgen nur künstlerischer Akte betrachtet wurden (z. B. Schriftsteller – Verlag – Buch – Buchhandel); später, aufgrund von Abgrenzungsproblemen, andere nichtkünstlerische, aber kreative Schöpfungsakte und ihre Folgen hinzukamen, etwa Design oder Architektur. So spricht der 5. Kulturwirtschaftsbericht bereits von »Kultur- und Kreativwirtschaft«, die Tendenz ist die, das »Kultur« fallenzulassen und mit »Kreativwirtschaft« all das zu meinen, was am Anfang eine tolle Idee hat und am Ende Geld bringt. So argumentiert etwa auch die »Ruhr.2010«, die Kreativwirtschaft zu einem ihrer Hauptprogrammpunkte promovierte.
Nach mittlerweile allgemein (auch international) akzeptierter Definition umfasst die Kultur- und Kreativwirtschaft folgende Teilbranchen: Buch-, Architektur-, Presse-, Kunst- und Theatermarkt, Musik-, Film-, Rundfunk-, Werbe- und Designwirtschaft sowie die Software/Games-Industrie. Die öffentlichrechtlichen Kreativinstitute wie Rundfunkanstalten, städtische Bühnen und Orchester etc. zählen nicht dazu. Im Jahre 2008 erstellte die NRW.Bank, die Förderbank des Landes, ihrerseits eine Studie über die Bedeutung der Kultur- und Kreativwirtschaft für Nordrhein-Westfalen, danach zählt diese Branche 50.300 Unternehmen, in denen 212.000 Erwerbstätige (davon knapp ein Viertel Selbstständige) einen Umsatz von ca. 35 Milliarden Euro erwirtschaften, das sind 7,5 Prozent der NRW-Ökonomie, mehr als der Anteil der Chemie-Industrie. Und da die Kreativwirtschaft schneller wächst als alle anderen Branchen, hatte sie bald das Zeug, von der Wirtschaftspolitik zum Strohhalm ernannt zu werden, der die seit Jahrzehnten in den Strudeln des Strukturwandels strampelte NRW-Wirtschaft wieder über Wasser bringen soll. Hirn statt Kohle. Ideen statt Stahl. Die Kreativen sollen es richten.
In der Tat können pfiffige Ideen ganze Märkte verändern, das zeigt die Erfindung des iPods. Die Kompositumsteile Kreativ und Wirtschaft sind einander nicht fremd, sie bilden ein uraltes, äußerst fruchtbares Paar. Neu aber ist, dass die symbolische Funktion eines Produkts viel wichtiger geworden ist als sein materieller Träger. Dieser Glamour schwebt über der ganzen Kreativwirtschaft. Von ihm geblendet, rief die damalige Wirtschaftsministerin Christa Thoben 2009 ein Cluster Management für die Kreativbranche ins Leben, um »überall im Land kreative Plattformen und Marktplätze (zu) errichten«. Legte die NRW.Bank einen 30 Millionen Euro schweren Kreativwirtschaftsfonds auf, um das ganz große Kreativrad zu drehen.
Und dann war ja da auch noch Richard Florida, jener amerikanische Ökonom, nach dessen 2002 vorgelegter These eine Stadt, und erst recht eine mit Problemen, lediglich ein Biotop für die von ihm so genannte Kreative Klasse braucht. Alles andere wie Zuzug finanziell potenter Schichten und Steuern zahlender Betriebe kommt dann von selbst…
Damit könnte man die Kreativwirtschaft eine glückliche Branche nennen – wenn sie denn schon eine wäre. Doch 95 Prozent sind Kleinunternehmen oder Ein-Mann-Betriebe, mehr oder wenige geniale Tüftler, halbe oder ganze Künstler, denen die betriebswirtschaftliche Mechanik fremd ist und die für eine Kartierung des sie umgebenden Marktes nicht die mentalen und personellen Kapazitäten besitzen. Sie alle scharren in ihrer kleinen Kuhle. Dabei könnten sie doch »zu einem wertvollen Dienstleister für die Produktionswirtschaft werden«, wie die NRW.Bank trommelt.
Aber dafür muss Hänschen zu Hänschen und Hänschen zu Hans finden. Sprich, die Isoliertheit muss überwunden, es müssen örtliche Geflechte – Cluster – gebildet und übergreifende Netze geknüpft werden, 200.000 Kreative im Land sollen eine Branche werden. Daher ist Netzwerk-Spannen, Cluster-Kneten, Branchen-Bilden das, was derzeit auf Stadt-, Regional- und Landesebene von einer kaum noch überschaubaren Zahl von Untersuchungen, Initiativen, Arbeitskreisen, Agenturen und Websites betrieben wird. Eine erkennbare Wirkung haben diese Maßnahmen bereits: Sie haben das Selbstbewusstsein der Kreativen gestärkt. Zwar irgendwie vom eigenen Einfallsreichtum überzeugt, sind sie es gewohnt, im Kontakt mit Behörden, Banken und großen Betrieben eher als Spinner abgetan zu werden; nun hat der Kreativwirtschafts-Hype bei Auftrag- und Kreditgebern zu einem Umdenken geführt. »Man fühlt sich besser, seitdem man weiß, man ist ein Wirtschaftsfaktor«, sagt René Wynands, mit Silke Löhmann Inhaber der erfolgreichen Design-Agentur »Oktober« in Bochum. Der Bewusststeinsumschwung sei mit der Kulturhauptstadt erfolgt, jedenfalls der in den Köpfen lokaler Verantwortlicher. »Die Kulturhauptstadt hat sich zwar um Strukturbildung gekümmert, das ist auch gut. Aber Publikumswirksames hat sie kaum was unternommen«, klagt Wynands andererseits. Hätte es nicht beispielsweise ein Programmpunkt sein können, das Erscheinungsbild einer Stadt im Ruhrgebiet durch eine Ruhrgebiets-Agentur neu gestalten zu lassen? »Da wurden viele Visionen kreiert, aber was ist dabei herausgekommen?«, fragt auch Carsten Widera-Trombach, Chef der Mülheimer Software-Schmiede »Crenetics«. Kommt vielleicht noch raus, immerhin hat Ruhr.2010 schon mal ein »European Centre for Creative Economy« gegründet, das sich »ecce« abkürzt und »ätsche« spricht.
Den größten Anteil am lokalen Wirtschaftsgeschehen haben die Kreativen in Köln mit mehr als 13.000 Unternehmen, etwa so viele wie im Ruhrgebiet mit seiner fünfmal größeren Einwohnerzahl. Der Kölner Vorsprung ergibt sich vor allem durch die Schwerkraft der Medienriesen WDR und RTL, die Musiker, Kameraleute, Studios um sich kreisen lassen. Düsseldorf ist mit seiner traditionellen Mode- und Werbewirtschaft ähnlich stark. Und doch verbinden sich im Ruhrgebiet mit der Kreativwirtschaft die größeren Hoffnungen. Hier herrscht die Dynamik der Aufholjagd, das Ruhrgebiet hat Visionen nötiger als irgend eine andere Region in NRW, und ein Stadtviertel voller Musiker, Design- und Modeleute ist eine Vision. Viele Städte tun viel für deren Erfüllung, zum Beispiel Dortmund. Kreativelocken und -hätscheln ist Sache der Wirtschaftsförderung, und da fängt das Problem oft an. Aber während bei der »Creative Stage Essen« sich der zuständige örtliche Wirtschaftsentwickler von seinen Schützlingen durch Anzug und Krawatte sauber unterschied, gehen seine Branchen-Entwickler-Kollegen Sylvia Tiews und Christian Weyers von der Dortmunder »Koordination Kreativwirtschaft« selbst als Kreative durch. Sie sind die quirlige Nabe eines immer lustiger laufenden Rads, auf das ständig neue Absolventen der Dortmunder Studiengänge für Architektur oder Design aufsteigen und auf dem auf der anderen Seite die Fachleute der IHK für Verkauf oder Marketing, Immobilienmakler, Banker und die Kollegen der anderer Stadtverwaltungssparten kreisen, um die Hand zu reichen. Deshalb, wenn auf Tiews & Weyers eine junge Modedesignerin mit der Geschäftsidee »Sprechende Knöpfe« zukommt und Räumlichkeiten, Geld und Verkaufshilfe benötigt, kann sie sicher sein, ernst genommen zu werden.
Auch für die Dortmunder stand das Thema Kreativwirtschaft zum ersten Mal 2007 auf der Agenda – 15 Jahre nach dem ersten Kulturwirtschaftsbericht – , auch hier gesetzt durch die Kulturhauptstadt. Was nicht heißt, dass nicht schon vorher Software-Betriebe oder Werbeagenturen gefördert wurden, nur rangierten die eben unter IT-Wirtschaft oder »wissensbasierte Dienstleistungen« und waren damit isolierte Phänomene. Was Tiews & Weyers seitdem Tag für Tag tun, ist: zusammenbringen. Start-ups mit Förderprogrammen, Geschäftsraumsucher mit Hausbesitzern – wobei Kreative Räume mit Flair suchen, innenstadtnah, preiswert. Genau hier liegt einer der enormen Vorteile gegenüber Düsseldorf und Köln: Das Ruhrgebiet ist billig. Hauptfrucht der Dortmunder Bemühungen ist die allmähliche Kreativverwirtschaftung des Viertels Rheinische Straße, in dem sich im Schatten des U langsam aber sicher eine kreative Szene entwickelt: halb wild gewachsen, halb initiiert.
Etwas, was auch den Stadtplanern leuchtende Augen macht. Nun träumen Tiews & Weyers von einer Immobilie, die sie mit 14 bereits wartenden Kreativunternehmen aller Couleur füllen wollen. Nach dem einmaligen Vorbild der Games Factory Ruhr, in der in Mülheim in einem ganz ähnlich funktionierenden Schulterschluss von Wirtschaftsförderung und Computerspiel-Entwicklern ein ganzes Haus als kreativer Pool rund ums Games-Erfinden entstand: Grafiker, Fotografen, Internet-Agentur usw. Weil man jüngst den Förderwettbewerb der Landesregierung »Create NRW« gewann, leistet das Haus sich nun eine Cluster-Managerin zur weiteren Entwicklung sowie drei Gründerlabore, in denen Berufsanfänger kostenlos das ganze Games-Entwicklungs-Equipment nutzen dürfen.
Bilanz: In keiner Branche in NRW tut sich so viel wie in den »Creative Industries«. Überall wächst es und wuchert. Dünger sind die zunehmende öffentliche Wertschätzung sowie das gegenseitige institutionelle Kennenlernen. Dies sowie alle Maßnahmen, die Cluster- und Branchenbildung zu beschleunigen, glücken ausschließlich auf lokaler Ebene. Die Dortmunder Koordinatoren etwa sagen: »Wir sind ganz unternehmensnah. Da hilft uns Herr Boros nicht« – was in Richtung eines der Kreativ-Cluster-Manager auf Landesebene zielt. Auch von den von der Kulturhauptstadt eingerichteten Branchen-»Commissions« halten die wirklichen Kreativen nicht viel: nett aber unwirksam. Wohingegen das Facebook für die Revier-Kreativen, die Website »Kreative Klasse Ruhr«, genutzt wird (auch wenn es massenhaft Möchtegerns bietet). Lähmendes Gift aber ist die Bürokratie: Alle klagen über Regularien, die den Spezifika der Branche nicht gerecht werden, René Wynands von »Oktober« wie Carsten Widera-Trombach von »Crenetics«. Und zuletzt: Es gibt die falschen Förderkredite. Die Mikro-Darlehen der NRW.Bank sind mit ihren 4.000 Euro zu mickrig. Und deren Kreativwirtschaftsfonds, der bei 250.000 Euro einsteigt, hat zwei Jahre nach Auflegung erst zwei Interessanten gefunden.
Was nicht verwundert. Die Kreativen sind klein und wollen es in der Regel bleiben. In Bankvorstandsetagen aber dreht man immer noch am liebsten am großen Rad: wie damals, bei Kohle und Stahl.