TEXT: STEFANIE STADEL
Was macht den Mann mit Hut wieder so attraktiv? Fast 20 Jahre lang hat man ihn kaum beachtet. Und nun auf einmal ist alles Feuer und Flamme für Joseph Beuys: Künstler, Wissenschaftler unterschiedlichster Sparten, Museen und ihr Publikum, besonders das junge. 2008 erst rief Berlin zur riesigen Retrospektive in den Hamburger Bahnhof. Aus dem Museum of Modern Art hört man von Plänen, den Künstler aus Kleve zum Großauftritt nach New York zu holen. Und zwischendurch muss sich jetzt die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf mit einer umfassenden Beuys-Schau behaupten. Direktorin Marion Ackermann macht dazu immerhin 3000 Quadratmeter frei in ihrem Stammhaus am Grabbeplatz.
Nur ein paar Schritte über den Platz, dann um die Ecke. In der engen Mutter-Ey-Straße Hausnummer drei trifft man vier Forscher – alle um die dreißig und ebenfalls entbrannt für Beuys. Sie sitzen im trutzigen Bimsbetonbau, den Alfred Schmela 1971 als Galerie und Wohnung bauen ließ. Unlängst vom Land Nordrhein-Westfalen erworben, dient das architektonische Unikum der Kunstsammlung nun als dritte Spielstätte. Aktuell auch als eine Art Forschungslabor. Dort wo Beuys selbst so oft gastierte, wo er manch legendäres Werk inszenierte, begab sich das Kunsthistoriker-Quartett vor gut einem Jahr auf die Spuren des Künstlers. Und hat inzwischen den Genius loci, wie es scheint, wirklich lieb gewonnen. Es sei schon toll, schwärmt Benjamin Dodenhoff, wenn einem ein altes Beuys-Foto in die Hände falle und man erkenne: »Hey, der steht ja bei uns im Keller.«
Dodenhoff und sein Kommilitone Ulf Jensen haben dem nächtlichen Lärm der Altstadt bis jetzt die Stirn geboten. Sie wohnen nach wie vor unter dem Dach, in Schmelas Maisonette. Eine Etage tiefer steht zwischen Regalen mit Beuys-Büchern und rohen Wänden mit Beuys-Postern der Schreibtisch, drum herum Stühle, obendrauf Kekse. Die Computer ruhen vorübergehend, denn in der nächsten Stunde wird nicht gearbeitet, sondern erzählt: Nach eineinhalb Jahren Beuys-Total können die Wissenschaftler ihr eigenes Lied singen von der neuen Faszination, die der Künstler entfacht, von der ungeheuren Aktualität, die sein Werk birgt – für den Betrachter und vielleicht mehr noch für den Kunsthistoriker von heute. Denn, auch wenn die Literatur kaum fassbar scheint, sei längst nicht alles gesagt, gesehen, untersucht.
Die vier im Schmela-Haus begreifen sich als neue Generation der Beuys-Forschung. Eine recht junge Qualifikation. Denn keiner von ihnen hatte sich intensiver mit dem großen Erfinder des »Erweiterten Kunstbegriffs« befasst, bevor er im April 2009 im Schmela-Haus an die Arbeit ging. Ausgewählt wurden sie von Franz-Joachim Verspohl, Beuys-Experte und Professor an der Universität Jena. Bezahlt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, kamen sie mit dem Auftrag nach Düsseldorf, der großen Beuys-Schau dort forschend zur Seite zu stehen.
Inzwischen ist Verspohl verstorben, und die ursprünglich für die Ausstellung in der Kunstsammlung und die Kooperation mit der Uni verantwortliche Kuratorin Pia Müller-Tamm hat sich an die Staatliche Kunsthalle nach Karlsruhe verabschiedet. Geblieben sind das Großprojekt und das Team aus Jena. Gekommen ist Marion Ackermann als neue Direktorin der Kunstsammlung, die in ihrer Karriere bisher nicht viel mit Beuys zu tun hatte und für die Unterstützung aus dem Schmela-Haus umso dankbarer gewesen sein dürfte. Für das Quartett dort gab es viel zu tun in den letzten Monaten: Die Datierungen für Beuys’ Werke schwanken, Titelangaben in der Literatur widersprechen sich. Werkanalysen und Katalogtexte mussten geschrieben werden.
Und wie ist die »neue Generation« an die Sache heran gegangen? Was zeichnet ihre Arbeit aus, wie unterscheidet sich ihre Sichtweise von jener der alten Interpreten? Die Antwort kommt prompt: »Der große Knackpunkt ist, dass wir Beuys nicht mehr persönlich erlebt haben.« Ein Großteil der Literatur, so Dodenhoff, stamme von Leuten, die über die Person an das Werk gekommen seien. »Uns aber bleiben tatsächlich nur noch die Zeichnungen, Skulpturen, Installationen.«
Viele betrachteten das natürlich als Manko. »Wie kann man sich eigentlich mit Beuys beschäftigen, wenn man ihn nicht kennen gelernt hat?« Eine Frage, die den jungen Kunsthistorikern immer wieder gestellt wird und für Dodenhoff leicht zu beantworten ist: »Natürlich funktioniert das, der ist schließlich Künstler, hat Kunstwerke geschaffen.« Die müsse man sich eben genau ansehen: »Mit einer Beschreibung anfangen, sich fragen, was macht er da eigentlich mit den Materialien, wie komponiert er die, welche Informationen bekomme ich als Betrachter. Eben nicht zuerst gucken, was Beuys damals vielleicht gesagt hat, als er die Installation aufgebaut hat, nicht zuerst nach Interview-Mitschnitten suchen, wo er das erklärt. Nicht sofort das Konzept heranziehen, sondern mit dem Werk anfangen.«
Eine simple Taktik, die im Übrigen ganz im Sinne des Erfinders ist. Auch wenn er mit seinen Aufsehen erregenden Auftritten den Personenkult nicht zu knapp beförderte, plädierte Beuys selbst doch immer dafür, das Drumherum bei Seite zu lassen und allein vom Werk auszugehen.
Das haben die vier getan, dabei die Arbeit, je nach Neigung, aufgeteilt. Carmen Alonso hat sich in die plastischen Arbeiten vertieft, Ulf Jensen nimmt im Ausstellungs-Katalog einen Beuys-Film analytisch auseinander. Christine Demele, die gerade ihre Dissertation über eine Dürer-Zeichnung eingereicht hat, schaute sich im zeichnerischen Werk von Beuys um. Benjamin Dodenhoff schließlich ging dem Prinzip der Schichtung in Beuys’ Schaffen nach – er fand etwa heraus, dass es schon in ganz frühen Zeichnungen von Bergen oder Gletschern auftaucht, und verfolgte es bis ins späte Werk zur formalen, relativ abstrakten Filzschichtung. »Von solchen Fäden durch Beuys’ Werk gibt es, glaube ich, unendlich viele«, so Dodenhoff. Auch Jensen schwärmt von der Fülle an Bezügen: »Man muss nur hineingreifen – viele sind bisher noch gar nicht erkannt oder aufgezeigt worden.«
Die Zeit in Düsseldorf hat sie zu echten Fans gemacht. Und als solche stehen die Nachwuchs-Wissenschafter ganz und gar nicht allein da. Die neue Beuys-Begeisterung zieht sich offenbar quer durch alle Reihen. Jüngere Künstler fühlen sich inspiriert, darunter so populäre wie Jonathan Meese. Kunsthistoriker versuchen, Beuys’ Werk mit zeitgenössischen Strömungen zu konfrontieren. Sogar Ökonomen und Juristen nahmen sich in letzter Zeit sein Schaffen vor. Wohl eine echte Welle, die auch jüngere Kreise ohne künstlerische oder wissenschaftliche Ambitionen ergriffen hat. Bei der großen Beuys-Ausstellung im Hamburger Bahnhof zählte man immerhin über 60 Prozent jüngere Besucher, die Beuys nicht mehr erlebt haben dürften.
Die Runde um den Tisch im Schmela-Haus hat eine ganze Latte triftiger Gründe für dieses Revival parat. Da ist etwa die unglaubliche Brisanz der Themen, die Beuys vor Jahrzehnten schon anging. Oder auch Beuys’ Qualitäten als Integrationsfigur. Als Vorbild, das sich durch seine Inszenierungen medial erschließen lasse. Sicher habe das neue Interesse an Beuys, so mutmaßt man, auch mit den aktuellen Krisenerfahrungen zu tun. Als großer Denker habe der Künstler dezidierte Vorschläge zur Lösung politischer, ökonomischer, ökologischer Probleme gemacht, die heute vordringlicher denn je scheinen – dabei allein der Kunst die Fähigkeit zugesprochen, unsere Realität neu zu denken.
Vielleicht könnte man es auch so sagen: Die Figur ist interessant. Der Andersdenker, der Einzelgänger, der Aufrührer, der Utopist – radikal und charismatisch. Ein Grenzgänger, wie ihn die Kunst heute nicht mehr zu bieten hat. Mit Unmengen an Fotos, Zitaten, Filmdokumenten, die das bildhauerische und zeichnerische Werk begleiteten, bemühte sich zuletzt die Berliner Beuys-Schau auch, all jene Facetten der Gestalt aufzufächern.
Anders nun Düsseldorf. Dort will man sich wieder stärker aufs Werk konzentrieren. Keine fremden Dokumente präsentieren, sondern ausschließlich von Beuys geschaffene Arbeiten auffahren – um die 300 an der Zahl. Darunter so wichtige wie »zeige deine Wunde«, »The pack (das Rudel)« oder »Fond IV/4«. Mitte August sind die Aufbauarbeiten am Grabbeplatz voll im Gange.
Auch im Schmela-Haus werden gleich die Computer wieder hochgefahren. Die Katalogtexte warten auf eine letzte lästige Korrektur – und mit einem Mal scheint die Begeisterung in den Gesichtern der jungen Beuys-Forscher wie weggeblasen.
»Joseph Beuys. Parallelprozesse«; 11. Sept. 2010 bis 16. Januar 2011; Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K20. Tel.: 0211/83 81 130. www.kunstsammlung.de
Parallel zeigt das Museum Schloss Moyland in Bedburg-Hau die Ausstellung »Beuys: Energieplan«. Mit einer Auswahl von circa 200 frühen und teils unveröffentlichten Zeichnungen aus der Sammlung des Museums beleuchtet die Schau erstmals Beuys’ zentralen Gedanken des Energieplans. 5. Sept. 2010 bis 20. März 2011. Tel.: 02824/9510 60. www.moyland.de