TEXT: VOLKER K. BELGHAUS
Norm ist nicht gerade sexy. Klingt nach Vorschriften, dicken Handbüchern und sehr deutsch. Die bekannte Abkürzung für Papiergrößen, DIN, steht denn auch für »Deutsche Industrienorm« und schmeckt nach übelgelaunter Regelhuberei. Wo bleibt die Ästhetik? Können genormte und standardisierte Produkte schön sein? Diese Fragen beantwortet die Ausstellung »Norm = Form« im Rahmen des niederländisch-deutschen Kulturfestivals »NL-Ruhr« auf der Zeche Zollverein mit einem klaren »Ja, aber…!« und weist so auf ein Paradoxon der modernen Gesellschaft hin.
Heute sieht sich jeder als aufgeklärter Konsument mit ausgeprägter Stil-Sicherheit, der sich ganz bewusst für bestimmte Produkte entscheidet. Dagegen steht aber eine durch und durch globalisierte und standardisierte Umwelt, die die Möchtegern-Individuen mit genormter Ware versorgt. Wer sich beim blau-gelben Möbelriesen auf der grünen Wiese seine Einrichtung zusammenkauft, wird Teil einer globalisierten Gemeinschaft, die sich nicht nur konsequent duzt, sondern auch im gleichen Bett-Modell schläft. Auch die selbsternannten Apple-Macintosh-Avantgardisten sind mittlerweile Teil einer großen Gemeinde, deren Mitglieder über in Asien produzierte Massenware streicheln; da helfen dann auch nicht mehr die überdimensionierten Kopfhörer im 70er-Stil, die seit einiger Zeit die weißen Ohrknöpfe abgelöst haben. Abgrenzung ist angesagt; auch wenn sie ein wenig trotzig daherkommt wie beim Kurator Timo de Rijk, der letztes Jahr bei einem Vortrag zum selben Thema auf Zollverein erfolglos versuchte, seine Präsentation auf einem Mac-Book zu starten, da er »der Einzige in seinem Studio sei, der kein Apple nutzt.«
So neu ist die Idee der günstigen und schnellen Massenproduktion aber nicht. Die Waffenindustrie gehörte zu den Ersten, die sich diese Vorteile zunutze machte. Ab 1851 wurden Revolver in Serie gefertigt, und die Kalaschnikow ist heute so weit verbreitet, dass man sie als Massenvernichtungswaffe bezeichnen kann. Aber auch hier macht sich der Wunsch nach Individualität bemerkbar; so entdeckten amerikanische Soldaten in Saddam Husseins Palast eine goldene Version der »AK-47« – Diktatoren-Bling-Bling erster Güte.
»Norm = Form« stellt aber nicht nur die negativen Seiten der Normung in den Vordergrund, sondern fragt auch nach den sozialen und moralischen Aspekten der normierten Produkte. Man blickt zurück in die Designgeschichte und landet wie immer sehr schnell beim Bauhaus mit seinen formalen und darum einfach herzustellenden Entwürfen. Sieht man sich das Stapelgeschirr der damaligen Zeit an, wird deutlich, wie perfekt Norm zur Form werden kann. Wie auch die »Frankfurter Küche« von 1920, die erste modulare Einbauküche für beengte Räume, in der die Hausfrau alle Arbeitsbereiche bequem erreichen konnte. Der niederländische Designer Piet Zwart schuf in den 30er Jahre Ähnliches. Ein weiteres, positives Beispiel ist die Pariser Metro, deren stählerne Jugendstil-Eingänge bis heute den Weg zum Zug weisen und zugleich visuell das Stadtbild bereichern.
Die Norm bestimmt heute die Form, und im besten Fall führt das zu ästhetisch gelungenen Ergebnissen und Verbindlichkeit für tägliche Arbeitsprozesse wie Corporate Designs, den visuellen Erscheinungsbildern für Unternehmen. Dank der Pantone-Farbfächer mit ihren genormten Farbsystemen ist der angemischte Farbton in Asien derselbe wie in Europa. Das Grün des Kaffee-Verbreiters »Starbucks« trägt weltweit die Nummer »3425 C«, »Milka« bekam sogar einen eigenen Lila-Ton zugewiesen. Die goldenen »McDonalds«-Bögen gehören mittlerweile genauso zum design- und popkulturellen Gedächtnis wie der VW-Käfer. Gerade letzterer hat es geschafft, durch alle gesellschaftlichen Veränderungen hindurch, seinen Platz in der Design-Geschichte zu sichern. Vom KDF-Wagen des Führers zum Wirtschaftswunderauto zur Hippieschaukel zum lateinamerikanischen Taxi. »Überclassic« nennt Timo de Rijk diesen Umstand und verweist auf ein Bild, das die vielen Einzelteile zeigt, aus denen der Ford Fiesta zusammenmontiert wird. Das sieht auf den ersten Blick komplex aus, scheint es aber nur in Maßen zu sein, da alle 37 Sekunden ein fertiges Auto vom Band rollt – Normung von höchster Perfektion.
Aber nicht nur im technischen Bereich wird nach Norm gestaltet. Auch der Mensch, das vermeintliche Individuum, wird vermessen. Für die Entwicklung von Sonnenbrillen, Mobiltelefonen, Headsets und Helmen haben die Chinesen längst die ein Physiognomie-Kataster der eigenen Bevölkerung erhoben und einen virtuellen 3D-Kopf entworfen. Der durchschnittliche Volksgenosse eben; und was dem passt, soll auch den Kunden des stark wachsenden chinesischen Marktes passen.
Aber gute Ideen können auch scheitern, wie das Papiergrößensystem »Weltformat« zeigt. Bevor die Welt in DIN-Größen abgesteckt wurde, entwickelte der deutsche Chemiker Wilhelm Ostwald 1911 im Vergleich zur Größe DIN A4 wesentlich schmalere und längere Papiergrößen. Ziel war die Vereinheitlichung der Bibliotheksbestände des Projekts »Die Brücke«, einer Organisation, die sich dem Sammeln und Ordnen des Weltwissens verschrieben hatte, um Platz sparen zu können. Durchsetzen konnte sich das »Weltformat« aber nie, wird jedoch manchmal noch von Schweizer Gestaltern genutzt, diesen Form-Individualisten.
Auf Zollverein sind aber nicht nur schnöde Alltagsgegenstände zu sehen, sondern auch Entwürfe von anerkannten Designern wie Dieter Rams, 2012Architecten, Charles und Ray Eames, Ettore Sottsass, Kisho Kurokawa oder Wim Crouwel, teilweise aus der Sammlung des Centre Pompidou.
Parallel zur Ausstellung wurde auf Zollverein auch der »GastGastgeber-Store« eingerichtet, ein weiteres Projekt der »NL-Ruhr«. Als »Pop-Up-Store« (Design: Rogier Martens) bietet er niederländisches Design zum Selberkaufen, z.B. in Form von orangefarbenen (typisch niederländische Norm) Picknick-Decken (Design: Bureua Venhuizen), während ein aufklappbarer Mercedes-Bus als mobiler Shop durchs Ruhrgebiet tingelt.
»NORM = FORM«28.08. bis 17.10.2010Zeche Zollverein, Halle 5Gelsenkirchener Str. 18145309 Essenwww.nl-ruhr.dewww.zollverein.de