EINE GLOSSE VON ULRICH DEUTER
Manchmal möchte man über unser Bundesland schier verzweifeln. Regensburg hat gerade 130.000 Einwohnerchen. Und wir mit unseren 18 Millionen kriegen nicht mal einen halb so saftigen Domspatzen-Skandal hin wie die. Massenschülermissbrauch im Elitegymnasium? Tägliche Prügel auf Kinderhintern aus der Hand eines künftigen Bischofs? So etwas passiert nicht in Düsseldorf oder Bocholt, sondern in Berlin und Schrobenhausen, einem Nest in Oberbayern. Als das Feuer der Missbrauchsbezichtigungen sich flächenbrandartig ausbreitete im Land, da zeigte die Karte unserer Kinderquälerrepublik erschreckend weiße Flecken im Westen. Gut, irgendwann lieferte unser zögerliches NRW die Fälle nach, die sich gehören für ein großes Land: Missbrauchsaffären in katholischen Erziehungsanstalten in Ostbevern, Meschede, Werl; ein Sex-&-Seelsorger in Münster; ein – schöne Steigerung – einschlägig aktiver Domkapitular direkt unter den Augen des Bischofs in Essen. Überhaupt, das Ruhrbistum – Chapeau! Konnte es doch mit einem geständigen Knabenkaplan punkten, den es weiland ans Erzbistum München verschob, wo er seine Neigung an bayrischen Bubenkörpern vervollkommnete. Wer hat, dem wird gegeben, heißt es in der Bibel, und der Vorfall hätte Zündstoff genug besessen, um NRW locker an Canisius-Kolleg sowie Kloster Ettal vorbeiziehen und auf Empörungsplatz Nummer eins landen zu lassen. Wäre nicht die Odenwaldschule fixer gewesen. Jahrzehntelanger täglicher Missbrauch aller durch alle, das brach alle Rekorde, das macht den Hessen so schnell keiner nach.
In dieser Zeit der Schande für NRW lag manche Hoffnung auf Kardinal Meisner. Als Bischof Zollitsch sich vermaß, ein Verfassungsorgan der Bundesrepublik, die Justizministerin, mit einem Ultimatum zu nötigen; als Bischof Müller der Presse eine naziähnliche kirchenfeindliche Kampagne vorwarf; als Bischof Mixa Achtundsechzig die Schuld dafür gab, dass Priester Kinder missbrauchen – da blickten viele erwartungsvoll in Richtung Köln. Sitzt da nicht in Gestalt Erzbischof Meisners ein getreuer Stiefel Gottes: grobstollig, unpoliert, in den eigenen Geruch verliebt? Hat er nicht auf alles, was den freien Kern unserer Verfassung ausmacht, immer wieder verlässlich verbal getreten? Warum, so fragte man sich, poltert er jetzt nicht?
Ja, das waren für alle, die NRW auf einem Spitzenplatz sehen wollen, bittere Wochen. Bis zu jenem Sonntag im April, als sich in einer Fernseh-Talkshow der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck outete. Wieder Essen! Gute Jungs, da. Overbeck hatte sich ein Kreuz um den Hals gehängt, mit dem man auch jemanden hätte erschlagen können. Senkte angriffsbereit den Kopf, setzte den eliminatorischen Blick eines Großinquisitors auf und herrschte den schwulen Filmemacher Rosa von Praunheim an: »Homosexualität ist eine Sünde. Sie wissen ganz genau, dass es das ist! Das widerspricht der Natur!«
Seitdem ist klar: Nordrhein-Westfalen ist raus aus dem Abwärtstrend. Vielleicht sind Odenwaldschule und Domspatzen nicht zu toppen. Aber wenn Overbeck jetzt das Blutgericht für alle Widernatürlichen sowie den Papstgehorsam als Staatsziel im Grundgesetz fordern würde, vielleicht auch noch den Welterbestatus für den Zölibat – dann hätte NRW eine echte Chance auf einen oberen Platz im Skandalranking.