Goethe erwähnt im »Westöstlichen Divan« sowohl das Liebespaar Medschnun und Leila (»Nur füreinander da«) wie auch dessen Erfinder, den Universalgelehrten, Hakim (Weisen) und Bruder im Geiste, Nizami: »Unauflösliches, wer löst es? Liebende sich wieder findend«. Die mystische Versenkung, das Betrachten von Urphänomenen und eine geradezu kosmische Überwölbung des Irdischen, die wir vor allem aus Goethes späten Dichtungen kennen, ist für Willy Decker Leitlinie bei der Ausrichtung der Ruhrtriennale.
Das NRW-Landesfestival unter seiner Intendanz geht ins zweite Jahr und wendet sich bei seiner thematischen »Wanderung« nach dem jüdisch-christlichen Erbe 2009 nun dem Islam zu. Beginnend – als Kreation inszeniert von Decker selbst am 20. August in der Jahrhunderthalle Bochum – mit eben jenem berühmten persischen Liebespaar aus dem 12. Jahrhundert, dem Albert Ostermaier ein neues Textkostüm anpasst und das der israelisch-palästinensische Komponist Samir Odeh-Tamimi musikalisch umhüllt. Medschnun (oder auch Madschnun) geht an seiner Liebe zu Leila zugrunde. Auf Erden ist ihm nicht zu helfen.
Ein Dutzend Premieren folgen aufeinander bis zum 10. Oktober: Musiktheater (die Henze-Uraufführung »Gisela!«), Schauspiel (darunter eine Bearbeitung der Grass-»Blechtrommel« durch Armin Petras und Regisseur Jan Bosse), Tanz (dabei auch The Forsythe Company mit »The Defenders«), gerahmt von Lesungen, Gesprächsforen, einer Filmreihe und Konzerten, wobei das Dauerbrenner-Projekt Century of Songs durch den neuen Kurator Christoph Gurk anders justiert wird.
Herzstück bilden die für die Triennale seit Mortiers Zeiten spezifischen Kreationen. Christoph Schlingensief ruft in einer phantastischen (Hilfs-)Aktion »S.M.A.S.H.«, bei der sein Opernprojekt in Burkina Faso Pate steht und jenseits von Afrika in Mülheim an der Ruhr andockt. »Vertical Road« der Akram Khan Company erklimmt die Himmelsleiter. »Paradise« begibt sich auf eine Theater-rituelle Entdeckungsreise für Zuschauer ab acht Jahren durch die acht Gemächer des Elysiums.
Unter der Überschrift »Heimweh nach Zukunft« finden zudem zwei Uraufführungen statt: In »Verrücktes Blut« (entwickelt von Nurkan Erpulat und Jens Hillje nach dem Film »La Journée de la Jupe«) wird die Bildungsdebatte unter dem Aspekt von Migrations-Schülern und ihrer Lehrerin, die tagtäglich im Unterricht mit dem Klassenfeind zu kämpfen hat, auf eigenwillige Weise zur Lösung gebracht. Das Drama »Verbrennungen« des Libanesen Wajdi Mouawad berichtet von einer Vater- und Brudersuche zweier Geschwister im Bürgerkriegs-Land der Mutter.
In ihrer schon exklusiv intellektuell zu nennenden Konzeption vertritt die Ruhrtriennale gegenüber anderen Festivals einen Anspruch, der sich vom Gefälligen und Lukullischen weit entfernt. Willy Deckers Ansatz führt dabei zurück zu Gerard Mortiers Beginn, der am Himmel über der Ruhr eine transzendente Linie aufgetan hatte. | AWI
Ruhrtriennale 2010; »Wanderung. Suche nach dem Weg«; 20. August bis 10. Oktober 2010; Hotline: 0700/2002 3456. www.ruhrtriennale.de