TEXT: ANDREAS WILINK
Was ist davon zu halten, wenn ein 65-jähriger Mann den selbst herbeigeführten Tod eines Jünglings stirbt – einen Bühnentod, inszeniert, indem er sich den Lauf eines Gewehrs in den Mund schiebt und abdrückt? Neben seinem Leichnam auf dem Speicher des Farmhauses im Staat New York findet die Putzfrau einen »Zettel, auf dem neun Wörter standen: ›Die Sache ist die: Konstantin Gawrilowitsch hat sich erschossen.‹« Philip Roth liefert die Erklärung sogleich nach: »Es war die letzte Zeile von Die Möwe«.
Simon Axler ist Schauspieler – und damit alles rechtfertigt. Anders als Tschechows unglücklicher Konstantin (Kostja) Trepljow, den Axler 40 Jahre zuvor mit Mitte Zwanzig selbst gespielt hatte, ist er kein erfolgloser Schriftsteller, sondern gefeierter Theaterstar, gleichrangig mit den Heroen John Gielgud und Laurence Olivier. Ein Titan, der sein Scheitern als universale Katastrophe erlebt: »als das Versagen des Gefühls vor dem Leben«, womit der Abgang eines anderen Selbstmörders von Format, des Mjnheer Peeperkorn, im »Zauberberg« begründet wird.
Wenn auch alles ganz verschieden ist, sind Simon und Kostja doch Brüder im Selbstzweifel und Selbstmitleid. Sie versagen – in der Arbeit und in der Liebe. Kann das Theater das Leben überbieten und mit seinen Mustern und Mitteln vollenden, kann umgekehrt das wahre Schauspiel des Lebens dem Bühnendrama Paroli bieten? Bleibt nicht, wie man’s auch wendet, der Versuch einer Parallelschaltung grotesk verzerrte Täuschung?
Philip Roths »Die Demütigung« erzählt – äußerst knapp, präzise und ohne ein Gramm Ballast – in drei klassisch gebauten Kapitel-Akten die Tragödie eines sich selbst lächerlich gewordenen Mannes: Ein Schauspieler, der nicht mehr spielen kann.
In fürchterlicher Konsequenz bündelt das schmale Buch die Roth seit einem halben Jahrhundert beschäftigenden Themen und verdichtet sie zur Allegorie: Familie, die Obsessionen von Liebe und Sexualität, Krankheit, Alter, Tod und das Fremdsein in der eigenen Haut. Seine Literatur entwickelte sich von komischen Krisen zur existenziellen Katastrophe, vom Schelmenroman zum Endspiel, von der lachenden Erkenntnis zum bitteren Spott. »Die Demütigung« ist angekommen auf den Gipfeln der Verzweiflung. Grandios komponierte Untergangsmusik.
»Er hatte seinen Zauber verloren.« Die spezifische Magie aus Unmittelbarkeit, Instinkt, Naivität. Simon Axler betrachtet die eigene Existenz nur noch als unendlich gespiegeltes Rollenspiel und bekommt es mit der Angst zu tun. Es folgen: Zusammenbruch, Trennung von der Ehefrau, Rückzug aufs Land, Todeswunsch, Selbsteinweisung in die Psychiatrie, Abschied von der Bühne – bis auf die letzte Vorstellung.
Dann geschieht die »Verwandlung« (Kapitel II). Pegeen Mike Stapleford, die er aus Kindertagen als Jugendfreund der nun von dieser unangemessenen Beziehung überhaupt nicht amüsierten Eltern kannte, besucht ihn. Sie bleibt. Die 40-jährige Lesbierin wird zur heterosexuellen Geliebten. Nicht genug, treiben sie es wild in Phantasie und Wirklichkeit mit allerlei Spielzeug aus dem Sexshop und auch mal zu dritt. Ein absurdes Theater von Lust und Begehren und deren Travestie – und ein Akt der Inbesitznahme. Axler erfindet Pegeen wie Pygmalion neu: kleidet sie ein, formt ein erotisches Ideal und unterwirft sie sich scheinbar. Aber tatsächlich dominiert sie, die Freibeuterin der Liebe, ihn mit ihrem Willen und bedient sich seiner in einem Experiment zur Selbsterfahrung. Nach dem abrupten Bruch lässt sie Axler zerstört zurück, ausgeliefert dem Schicksal, das unveränderbar ist wie der Text eines Dramas.
Philip Roth, Die Demütigung, Roman
aus dem Amerikanische von Dirk van Gunsteren,
Carl Hanser Verlag, München 2010, 138 S., 15,90 Euro