TEXT: MELANIE SUCHY
Zurück auf Null. Oder: vorwärts auf Null? Etwas weglassen. Alles weg- oder in Frage stellen. Spielt man gedanklich mit dem Nichts, kommt Bewegung auf. Es ist ein Tanz um Möglichkeiten, ein Umstülpen des Gewöhnlichen und Gewohnten. Sicherheiten, die keine sind, gehen verloren.
»Also habe ich mich gefragt, ob es etwas gibt, das einfach ist, ohne vereinfacht zu sein.« Die Tänzerin steht eine halbe Stunde lang vor den Zuschauern und spricht. Sie stellt Fragen – an sich, an uns, an die Welt, an unser Verstehen der Welt. Sie legt gemessenen Wortschrittes einen Weg zurück, auf dem unglaublich viel passiert. Ihre Sätze enden im Offenen. Oder doch nicht? Sätze, die sich verselbständigen und durch den Raum schwingen. An das Wechselspiel aus Frage und Antwort gewöhnt, begibt man sich im Stillen denkend und fühlend in einen Dialog mit ihr und kommt doch nie zu Ende. Eine große kindliche Lust liegt in den vielen Warums, und doch spürt man auch eine Traurigkeit. Dass man sich so selten an dieses Fenster stellt und es aufreißt. Ins Freie schaut. Wozu das alles?
Dafür ist Kunst da. Augen auf! »Y« heißt die Performance der israelischen Tänzerin May Zarhy. Sie würde wunderbar zu dem ganz wortlosen Gruppenstück »ZERO« passen, das Zarhy zusammen mit Fabrice Mazliah und Ioannis Mandafounis auch im Rahmen einer Residenz auf PACT Zollverein in Essen erarbeitet hat. Nun kehren sie mit dem fertigen Gemeinschaftswerk zurück. Zum ersten Mal habe sie erlebt, dass kollaboratives Tun nicht bloß aus ungeliebten Kompromissen besteht, sagt May Zarhy. »Es hat jeden von uns gestärkt, so dass etwas daraus geworden ist, was keiner von uns hätte allein machen können.« Zusammen mit dem Soundkünstler Johannes Helberger haben sie vieles ausprobiert, viel diskutiert, vieles verworfen. »Es war nicht einfach.«
Für Ioannis Mazliah ist es vor allem eine Sache des Vertrauens. Man hat vorher viele tolle Ideen entwickelt, Vorstellungen gehabt, wie etwas sein könnte. Und dann hat es nicht hingehauen. Also: loslassen! Man verirrt sich. »Das ist das Schöne«, sagt er. Um nicht total verloren zu gehen, dorthin zu stolpern, wo alles sinnlos wird, gibt es die Gruppe und ihren »Kompass«, eine Vereinbarung also, wo Norden ist. Lösungen finden sich eigentlich von selbst, und gern dort, wo man sie nicht gesucht hat, erzählt Mazliah. Die Kunst ist, wachsam zu sein, um sie dann zu erkennen. Nein, nicht erkennen, überlegt er, das hieße ja, man wusste vorher schon, was es ist.
Gar nichts wissen – wie ist das? Ohne Ziel, ohne Grund, ohne Funktion sein. Beim Weglassen die Fülle des Einfachen und des Einsseins entdecken. Nach entblößten Zuständen suchen die drei in »ZERO«. Mit Witz und sinnentleerten Körpern. Die Zuschauer brauchen dafür ebenso offene Sinne wie die Tänzer, eine besondere Wachsamkeit im Labyrinth aus überlappenden Situationen.
Kompliziert ist das nicht, sondern einfach. Drei Leute in legerer Kleidung, die sich irgendwie beschäftigen – wie im normalen Leben: mit Sitzen, mit Suchen, mit sich selbst, mit Zehen, Fingern, Arm, Knie, Kappe, Sonnenbrille, Papierkorb, oder mit etwas, das gerade nicht sichtbar ist. Etwas, das vielleicht früher mal da war und nun weg ist. Und das, was jetzt da ist, wird durch die seltsamen Verrückungen und Zusammenstellungen unwirklich.
»Glaubst du, dass du jetzt hier bist? Bin ich hier? Hast du den Eindruck, deine Gedanken laufen? Laufen sie neben meinen her?« May Zarhy, Jahrgang 1984, lebt inzwischen halb in Europa, halb in Israel, wo sie semesterweise in einer Tanzausbildungsstätte in Tel Aviv unterrichtet. Noch vermisst sie in Israels lebendiger Tanzszene die intellektuelle Auseinandersetzung, den Diskurs, den sie am zeitgenössischen Tanz in Europa seit ihrer Zusatzausbildung an der Rotterdamer Tanzakademie so schätzt. Sie assistierte 2005 William Forsythe bei dessen »Three Atmospheric Studies«.
In dieser Zeit begann auch Ioannis Mandafounis bei der Forsythe Company sein Engagement. Nach vier Jahren verließ der 29-jährige griechische Tänzer dann das Ensemble, um seine eigenen Projekte zu verfolgen und sich in Japan in der Kampfkunst Budo fortzubilden. »Ich bin im Tanzstudio aufgewachsen«, erzählt er, wo sein Vater, Choreograf, unendlich viele Bewegungsideen produzierte und seinen Tänzern vorgab. Das macht der Sohn heute bewusst anders. Er arbeit lieber gemeinschaftlich, sagt Mandafounis, sogar mit Tanzstudenten, wie kürzlich in Frankfurt. Dort hat er Erstsemester als Gruppe aus aufrechten, gar nicht angeberischen Individuen sichtbar werden lassen und mit ihnen ein erfrischend komisches Stück choreografiert.
Mit Mazliah hatte Mandafounis 2007 ein Duett in einer Art Raubtierrotunde erarbeitet, »P.A.D«, das Forsythe so gut gefiel, dass er es jetzt in den Frankfurter Spielplan der Company aufnimmt. Zwei Männer mit Kapuzenpullis spielen hier Formen von Nähe durch, vom Verschmelzen der Köpfe beim Kapuzentausch, dem Aufeinanderliegen und dem Übernehmen von Bewegungen und Positionen übers grobe Herumschubsen bis zum maximalen räumlichen Abstand, der im Grunde das Gleiche bedeuten kann wie die unmittelbare Berührung. Beide Tänzer neutralisieren sich in einem Maße als Darsteller, dass sich die Zuschauer selbst einen Reim auf diese Konstellationen, Verschiebungen und Eruptionen machen müssen. Kein äußerer Ausdruck eines inneren Egos oder Gefühls wird hier Form, doch deuten die Bilder scheinbar auf Geschichten und Persönlichkeiten hin. Das ist alles Projektion. »Man sieht ja, was man sehen will«, sagt Mazliah. Offenheit für die Interpretation zu bieten, ohne Beliebiges zu liefern und zum Betrachten des eigenen Sehens anzuregen, ist auch in »ZERO« ihr Ziel. »Falls es denn ein Ziel gibt.«
Fabrice Mazliah aus Genf studierte und tanzte bei Maurice Béjart, in der Athener Company des Vaters von Mandafounis, dann beim exquisiten Nederlands Dans Theater in der Juniorcompanie II. Als er hätte ins NDTI eintreten können, entschied er sich 1997 für das Ballett Frankfurt und den experimentierfreudigen William Forsythe. Mazliah choreografiert selbst, seit er mit dem Tanzen begann und ist dankbar für die Ermutigung und den Freiraum, die sein Companydirektor ihm lässt. Da er in fast allen Repertoirestücken besetzt ist und die Company oft und weltweit tourt, wird die Koordination inzwischen etwas schwierig, sagt er. Viel Zeit bleibt da nicht. Doch das ist besser als nichts.
Am 23. & 24. April bei PACT Zollverein www.pact-zollverein.de