// Wenn in diesen Wochen in Deutschland das Jubiläum des Mauerfalls gefeiert wird, dann gibt es einen, der schluckt Bitternis. Er hat die Menschheit vor dem Dritten Weltkrieg bewahrt und ist dafür bestraft worden. Er hat sein Leben in den Dienst eines Staates gestellt, der ihn im Augenblick größter Not verließ. Schlimmer: Seine Gesinnungsgenossen schämen sich seiner. Seine Geschichte passt nicht mehr in die Zeit: die Geschichte von Aurikel und Asriel.
Duisdorf, ein Stadtteil im Westen von Bonn. Beinah dörflich der alte Kern, kleinbürgerlich die neueren Straßenzüge. Drei Bundesministerien haben hier immer noch ihren Hauptsitz, darunter das der Verteidigung am Südrand des Stadtteils, auf der Hardthöhe. Irgendwo zwischen diesen Zentren politischer Macht wohnt Dieter Popp. Bonn, wo er seit 40 Jahren zu Hause ist, hat die Wiedervereinigung mit dem Verlust des Hauptstadtstatus gut überstanden. Dieter Popp weniger. Der 71-Jährige geht leicht gebeugt und mit trippelnden Schritten. Seine Hände zittern ein wenig. Seine Gedanken sind wach und seine Zunge schnell, sie verrät den gebürtigen Berliner. Aber seine Augen blicken matt, müde. Nach innen. Dorthin wo eine Mauer steht, die nicht gefallen ist, die er behüten muss: die Mauer um seine Lebensleistung, gegen die die Zeit abwertend anrennt.
Dieter Popp war Spion. »Resident« der »Verwaltung Aufklärung« der Nationalen Volksarmee der DDR in der Bundesrepublik. Popp hat die Positionen des Westens zu den KSZE-Verhandlungen in Helsinki, zum Abrüstungsabkommen SALT II, zur Pershing/SS-20-Frage, zum »Krieg der Sterne« und vieles mehr nach Ost-Berlin verraten. 20 Jahre lang, von 1969 bis 1989. Aber Popp war kein Landesverräter, Popp war »Kundschafter des Friedens«, wie die Agenten in Feindesland von ihrer Partei pfadfinderstolz genannt wurden, er hat mit dafür gesorgt, dass die Spannung zwischen Ost und West im Kalten Krieg nicht explodierte. Dass der Westblock sich nicht überlegen fühlte und den »ersten Friedensstaat auf deutschem Boden« angriff. Dass nach und nach sogar Entspannung eintrat. Das glaubt Popp. Das wird, glaubt er auch, eines Tages in den Geschichtsbüchern stehen. Und er hat seine Sache schließlich gut gemacht. Er und sein Informant waren, so nannte es der damalige Generalbundesanwalt von Stahl, Spitzenquellen für die andere Seite. Sein Informant, das war Egon Streffer, Mitarbeiter im Bundesministerium der Verteidigung. Decknamen der beiden: Aurikel und Asriel, die Namen zweier Primelgewächse. Egon Streffer war Dieter Popps Freund.
Doch während die eine Hälfte dieser fleißigen kleinen Exportfirma 1989 starb, rechtzeitig gewissermaßen, wurde die andere an einem Maitag 1990 frühmorgens festgenommen. 1991 verurteilte ein Gericht Dieter Popp zu sechs Jahren Haft, vier saß er ab, 1997 war auch die Bewährungszeit beendet. Seitdem gibt es für Popp keine Heimlichtuereien mehr. Seitdem verkündet er offen, was er früher eher verbarg: seine Sympathie für die DDR und den Kommunismus. Seitdem engagiert er sich nach DKP und PDS für die »Linke«, wo er, versteht sich, Mitglied von Sahra Wagenknechts »Kommunistischer Plattform« ist. Vor allem aber: Dieter Popp hat mit Schicksalsgenossen einen Verein gegründet, mit dem rührend zwischen Kaninchenzüchter- und SED-Deutsch changierenden Namen »Initiativgruppe ›Kundschafter des Friedens‹ fordern Recht – IKF e.V.«, Sitz in Bonn. Vereinsziel: die DDR-Agenten im Westen zu rehabilitieren. Denn ihnen ward Unrecht getan.
Vielleicht 200, vielleicht 300 von ihnen sind nach der Wende verurteilt worden. 40 von ihnen sind IKF-Mitglied. Mittlerweile sitzt keiner von ihnen mehr ein, es waltete eine milde Form der Siegerjustiz. Immerhin: Die Agenten des BND in der DDR gingen straffrei aus. Und immerhinniger: Die NVA-Offiziere, die einen wie Dieter Popp im Westen geführt hatten, fanden schlimmstenfalls leicht ranggekürzt die Fortsetzung ihrer Karriere in der Bundeswehr. Popp & Co. aber brummten. Keine DDR tauschte sie aus, weil es keine DDR mehr gab. Kein Bundesverfassungsgericht, kein Europäischer Gerichtshof half. Nicht mal Gregor Gysi. Auf die Bitte um Hilfe beschied der einem Mitfriedenskundschafter, man habe doch schließlich gewusst, dass das Spionieren strafbar sei. Diese Antwort empört Dieter Popp immer noch. Jemand wie er hat Mühe, das Legalitätsprinzip anzuerkennen, das es Strafverfolgungsbehörden unmöglich macht, Gesetze nicht anzuwenden. Und so kämpft die IKF, dessen Vorsitzender Popp ist, nach dem Erschöpfen des Rechtswegs auf moralisch-politischen Feldern weiter. Vor allem mit dem Mittel des Selbstmitleids. Professionell zu akzeptieren, dass man ein Spiel, dessen Regeln man kannte, verloren hat – undenkbar.
Wer die Website des Bonner Ex-Agentenvereins aufsucht, sollte gewappnet sein. Kaum irgendwo findet sich auf so engem Raum so viel DDR-Unrechtsverharmlosung, Verschwörungsdenken, historische Erfahrungsresistenz und eben – Selbstmitleid. Wer mit Dieter Popp redet, aber begegnet einem still-freundlichen älteren Mann mit Jeans und Baseballkappe, der den Humor nicht verloren hat, auch wenn er den nur über seine Feinde ausstreut: die »Kalten Krieger« unter den Journalisten, die Falsches über ihn berichtet haben; seine Richter und die Bundesanwaltschaft; die formierten Kräfte in der BRD, die immer dann die DDR verunglimpfen und die »Stasikeule hervorholen«, wenn es gilt, von anderen Dingen abzulenken. Sowie über den »Überläufer Eberhard Lehmann aus Berlin-Karlshorst«, einen Stasi-Mann, der ihn und die anderen 1990 ans Messer geliefert hat. Dieter Popp findet unter Kaffeetrinken und Zigarillorauchen ein paar launige Bemerkungen über all diese. Eine witzig-distanzierende Haltung zu seinem eigenen Tun aber findet er nicht. Mit einer Ausnahme: Auch ihm kommt, jedenfalls ein wenig, die Tatsache bitter-ironisch vor, dass der KSZE-Vertrag, an dessen Zustandekommen – wir hörten dies schon – Popp & Co. per Aktendiebstahl maßgeblich beteiligt waren, der erste Schnitt in einen Ast war, auf dem eben Popp & Co. spionierend saßen. Denn »heute sagt man, Helsinki war der Startpunkt für den Zusammenbruch des sozialistischen Lagers.«
Wohl wahr. Und darum, Herr Popp, noch einmal die Frage: Sind Ihnen nicht wenigstens im Nachhinein, vielleicht beim nächtlichen Starren auf Gefängniszellwände, dann und wann Zweifel gekommen an Ihrer treuen Dienerschaft für einen Frieden à la Warschauer Pakt? – Nein, dem Kundschafter kamen keine Zweifel, allenfalls zögert er ein wenig mit der Antwort: »In der Rückschau …« Das ist sein Lieblingsausdruck. Doch die Rückschau, die Popp hält, bietet ein unverändertes, unerschütterliches Bild. Was früher richtig war, kann heute nicht falsch sein. »Wir hatten einfach Kalten Krieg. Und der ist kein heißer geworden. Das wirkte alles entspannend.« Das Spionieren nämlich. Und schwupps ist er, begleitet vom Zug am Zigarillo, wieder woanders. Rettet sich ins Damals seiner großen Zeit. Nach Helsinki etwa, KSZE-Konferenz, 1975. »Wenn man sich vorstellt, dass der Außenminister der DDR, der BRD und der UdSSR mit Aktentaschen nebeneinander saßen und alle die westlichen Verhandlungspositionen da drin hatten, die ich geliefert habe …« Und dann lächelt Dieter Popp kein bisschen verschlagen, eher verloren und tut einem leid und man verkneift sich die Frage, ob er wohl glaubt, den Friedensnobelpreis verdient zu haben.
Nach derzeitigen Forschungstand haben kurz vor Ende der DDR über 3.000 Bundesbürger im Geheimenfür die Stasi gearbeitet. Der spektakulärste Fall war Günter Guillaume (re.),der Bundeskanzler Willy Brandt als dessen persönlicher Referent für die DDR ausspionierte.Foto: Bundesarchiv. Ludwig Wegmann
Das Agentenspiel. 1968 angeworben, 1969 von Berlin nach Bonn gezogen, dort Egon kennengelernt. Man tut sich zusammen; Egon findet einen Job im Planungsstab auf der Hardthöhe. Mopst Akten, bringt sie, in eine Zeitschrift gesteckt, mittags raus, worauf Dieter sie fotografiert und Egon sie zurückträgt. Unbehelligt, 20 Jahre lang. Ein Lehrstück über die Bonner Republik. Dieter ist Versicherungsangestellter, nach Feierabend und am Wochenende Spion. Welche Mühsal, sich die Namen und Daten seiner wechselnden Identitäten zu merken, unter denen er beispielsweise mit dem Zug von Bonn nach Wien fährt, von dort nach Zürich, um dann nach Barcelona weiterzufliegen, wo er einen Kurier oder Führungsoffizier trifft. Wie anstrengend, aus den per Kurzwelle aus Richtung DDR gesendeten Zahlenkolonnen Klarzahlen und aus denen Botschaften zu dechiffrieren. Das ewige Entwickeln von Minox-Filmen in der Tageslichtentwicklerdose! Einmal klappt an der Grenze bei einer präparierten Tasche deren doppelter Boden plötzlich auf! Ein Stress auch, nach drüben zu den Genossen zu telefonieren: »Bis man dann durchkam nach Ost-Berlin, die hatten ja so wenig Leitungen.«
Man versteht, dass so viel Einsatz belohnt werden will. Bekommen aber hat Popp sechs Jahre Knast. Naja, und den Vaterländischen Verdienstorden der DDR »für Helsinki«, der war verbunden mit 3.000 Mark. Das Gericht fand, er habe als Agentenlohn insgesamt 70.000 DM kassiert; auch nicht viel. Die Summe gab es als »Verfallstrafe« aufs Gefängnis obendrauf. Die Strafe des Zweifels aber ersparte Popp sich, auch als nach der Wende herauskam, wie schlimm die DDR wirklich war, wie orwellesk die Stasi wütete, wie viele Tote die Mauer wirklich fraß. »Die Mauertoten, ja die sind furchtbar. Aber!« Und es folgen Strophen des Liedes von der DDR, die nicht nur schlecht war. Und die Stasispitzelei, die 100.000 IMs? Wo ist der Moment der Scham, für so einen Laden gearbeitet zu haben? Nun, den Moment gab es nicht, gibt es nicht, ihn musste es auch gar nicht geben, denn Dieter Popp arbeitete ja nicht für die Stasi, sondern für die NVA. Und seine Vereinsbrüder von der IKF, die in der Tat fast alle der Stasi als Kundschafter dienten, die hatten den Bund mit der Hauptverwaltung Aufklärung des Markus Wolf geschlossen. Stasi und Stasi, das ist eben zweierlei. »Also, das ist bei uns im Verein kein Thema. Wir wussten nichts davon. Wir hatten damit nichts zu tun. Deshalb kann man uns nicht vorwerfen, dass wir da irgendwie… Wir leiden ja mit da drunter, dass nach der Wende alles in einen Topf geworfen wurde.«
Wir haben nichts gewusst. Wir sind selbst Opfer. Das alte Lied. Wenngleich Dieter Popps Vater kein Nazi oder Mitläufer, sondern Kommunist und seine Mutter Jüdin war.
Die Strafe für so viel Unbelehrbarkeit, so viel Feigheit auch vor dem eigenen Leben mag sein, dass Popps Genossen von der Partei »Die Linke« jetzt nicht mehr möchten, dass Popp sich zur Wahl stellt, ja überhaupt öffentlich auftritt. Weil sie Angst haben, dass es dann heißt: Bei denen ist die Stasi untergeschlüpft. Das Kaltgestelltwordensein tut Popp weh. Aber nicht so arg. Denn schuld daran sind wieder nur die Antikommunisten, die überall die Stasi-Keule auspacken. Nicht etwa seine Nibelungentreue zur DDR, die einfach nicht enden will.