TEXT: ANDREAS WILINK
Hilferufe und Hilfsangebote: »Rette mich! – Lass mich für dich sorgen. – Du musst mich heiraten. – Tu’s nicht! – Können Sie mir helfen?« Ein Schriftsteller schreibt im Namen einer Frau, einer »sorgsamen Frau«, die über das andere Geschlecht Sätze sagt wie: »Ich kann Männer um ihr Schweigen nicht beneiden.« Andrew Sean Greer erzählt die »Geschichte einer Ehe« aus der Pers-pektive von Pearl Ash, verheiratete Misses Holland Cook. Es sind die frühen 50er Jahre in den USA, kein Neuanfang nach dem Sieg über die Diktaturen in Asien und Europa, sondern graue, verklemmte Jahre. Die Eisenhower-Ära, deren Vorstellungen von Anstand ein Klima kultivieren, wie sie das Kino in Douglas Sirks Melodramen oder im nachhinein in Todd Haynes’ »Far from Heaven« gespeichert hat. Kollektive Kälte als »Imitation of life«.
Das Land steht im Koreakrieg und veranstaltet Schauprozesse gegen die angeblich kommunistische Unterwanderung, die Rosenbergs erwarten ihre Hinrichtung, die Rassentrennung führt noch nicht ins bürgerrechtliche Aufbegehren. Hier aber wird ein anderer Kampf ausgefochten, verläuft eine stillere Front. Greers erster Satz »Wir glauben, die zu kennen, die wir lieben« enthält die Essenz des Buches als Liebesroman – ein schwerwiegender Satz, man ahnt den Trugschluss, mutmaßt ein Geheimnis, Enttäuschung, vielleicht einen radikalen Umbruch als Folge des Irrtums.
Pearl schildert sechs Monate, die ihre Familie mit Holland und dem an Polio erkrankten Sohn Sunny verändern. Dabei scheint, wie bei einem Palimpsest, der Beginn ihrer Liebe durch und vorausblickend taucht der Epochenwechsel am Erzählhorizont auf, so dass »Geschichte einer Ehe« den Klang der Zeit registriert und als Gesellschaftsporträt ein äußerlich intaktes amerikanisches Idyll zeigt, das eine labile Konstruktion verbirgt.
Pearl und Holland kennen einander seit Schultagen in Kentucky. Pearl wird Komplizin von Hollands vergeblichem Versuch, sich dem Einberufungsbefehl zu entziehen, indem er sich in seinem Elternhaus verbirgt. Er muss zur Ar-mee, erleidet als Marine nach einem japanischen Angriff im Pazifik Schiffbruch und kommt traumatisiert in die Psychiatrie. In Kalifornien treffen sie sich später wieder, »zweimal Fremde«, wie es heißt, heiraten und ziehen in eine Siedlung namens »Sunset« in den »Outside Lands« von San Francisco. Einer der vielen symbolischen Verweise in diesem die Seelen klug sondierenden Sonnenuntergangs-Szenario und Außenseiter-Drama. Denn es handelt sich – vom Autor erst nach einem Viertel des Buches scheinbar beiläufig arglos und gerade darum überraschend enthüllt, wie Greer überhaupt mit konventionellen Spannungsmitteln arbeitet – bei Pearl und Holland um Farbige. Womit sich das Anderssein freilich noch nicht erschöpft.
Plötzlich steht ein Fremder vor der Tür, blond, attraktiv, weiß. Buzz Drumer erhebt Anspruch auf Holland, schließt mit Pearl einen fragilen Bund und schlägt ihr einen Deal vor. Nimmt jemand Zuflucht in der Ehe oder sucht bei einem heiratsfähigen Collegegirl Schutz vor Gefährdungen und Lebensmöglichkeiten, für die es kein Modell, keine Übereinkunft, keine Norm gibt? Holland Cook kann man sich vorstellen als schwarzen Adonis, einen zweiten Sidney Poitier, dessen Schönheit ihn im Sperrbezirk von Bewunderung, Begehren und Misstrauen isoliert. So sieht ihn Pearl, so sieht ihn Buzz, so »inszeniert« ihn vor uns auch Greer, der seinen drei Hauptfiguren und Probanden einen prekären Gleichgewichtssinn mitgibt. Beklemmend genau, gleichwohl schwebend leicht wird ihr unendlich poröses Ich erfasst.
Es geht in Andrew Sean Greers Phänomenologie der Liebe nicht um das unmoralische Angebot von 100.000 Dollar, mit denen ein Lie- bender den Geliebten auslösen will, sondern um Unregelmäßigkeiten des Herzschlags, um Partituren des Sehnens, den quälenden Hunger nach Nähe, um fast unsichtbar gezogene labyrinthische Schicksalslinien, die sich dann doch verdi-cken, zu falschen Gedankenstrichen kombinieren und Erinnerungsspuren legen. Ihnen ist die Erkenntnis eingeprägt, dass Menschen nicht funktionieren, wie die Einbildungskraft eines anderen meint. Zuletzt sind die Dinge des Lebens immer viel komplizierter und viel einfacher, als die Vorstellung von einer freien Entscheidung. Der Grund des Glücks bleibt grundlos – ein Gnadenakt.
Andrew Sean Greer, Geschichte einer Ehe«.Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2009, 256 S., 19,95 Euro.