Schrankenlos
Joe Ortons »Beute« in Oberhausen
// Das Stück stammt von Joe Orton, das Motto von G.B. Shaw (»Anarchismus ist ein Spiel, das die Polizei gewinnt«), die Übersetzung von René Pollesch, die Inszenierung von Herbert Fritsch. Eine Steigerung ist also nicht möglich, es sei denn mit Hilfe des »Beute«-Ensembles. Was im Malersaal des Theaters Oberhausen auch passiert, indem über den Rand des kollektiven Nervenzusammenbruchs hinaus und bis in die organisierte Applaus-Unordnung hinein überzogen wird, was das Zeug hält. Oder eben nicht hält, denn auf der Bühne – ein Schlafzimmer mit Blümchentapete-Dekor, zerwühltem Doppelbett und mehrtürigem Kleiderschrank – bleibt nichts unversehrt. Der Mechanismus klemmt an diesem Polter- und Stolper-Abend nur einmal, als die Tücke des Objekts die Schlüsselgewalt des Schauspielers Klaus Zwick außer Kraft setzt, ansonsten läuft die Wirkungsmechanik wie geschmiert. 1933 als John Kingsley geboren, 1967 erschlagen von seinem Lebensgefährten Kenneth Halliwell, war Joe Ortons kurzes Leben selbst bühnen- oder filmreif. Der schwule Misfit streckte dem britischen Establishment, Kirche und Krone die Zunge raus. Der Absolvent der Royal Academy war ein proletarisierter, ungezogener Oscar Wilde. Kultiviertheit als äußerste Form der Unbotmäßigkeit und letzte Bastion antiautoritärer Verfassung. Ortons Sprache und Humor sind sehr trocken und schwarz, zumal durch den höflichen Konversationston, in dem die haarsträubenden Geschehnisse gewissermaßen vergesellschaftet werden, um unterm Strich zu zeigen, dass Rechtschaffenheit sich nicht bezahlt macht.
»Beute« ist eine ausschweifende Leichenfledderei, deren Ver- und Entwicklungen man dann doch mit leis’ wachsender Ungeduld beiwohnt. Sie bieten indes die ideale Vorlage für Fritsch, um Moral, Realität und Gesetze der Ökonomie über den Haufen zu werfen. Fritschs eigene Gelenkigkeit, Geschwindigkeit und Gerissenheit für Nonsense und Possen überträgt sich auf ein Ensemble, das sich zu sprungfedernden Vätern, Söhnen und Töchtern der Klamotte aufschwingt. Die Beute entstammt einem Bankraub. Täter sind die Burschen Hal und Dennis, die das Diebesgut im Sarg der soeben verblichenen Misses McLeavy verstauen, Hals Mutter, und die Leiche im Kleiderschrank deponieren. Dort steht die Tote Kopf, was auch für die daraus folgende Handlung und ihre Permanenzkrisen gilt. Göttliche Vorsehung, menschliches Irren und kriminalistischer Furor werden zur Farce verquickt. Beginnend in fast zögernd langsamer Umdrehung, als müsse Fritsch sich seines Gegenstandes erst vergewissern, dessen Energiebedarf testen und die Antriebskräfte umsichtig zügeln, findet das Spiel ohne Grenzen fix seine Mittel und Marotten: der Regisseur als Anatom der Destruktivität, der Schauspieler in der Rolle panischen Schreckens, die Leiche als akrobatische Emanation des Jenseits und der Kleiderschrank als Vehikel des Schrankenlosen. // AWI
Letztes Röcheln
Pinters »Geburtstagsfeier« am Schauspiel Köln
// Es gibt zweierlei Ängste im Theater-Leben des Jürgen Kruse. Einerseits den horror vacui, weshalb seine Bühnenräume neuronale Netze knüpfen, Bezugsrahmen setzen oder schlichtweg als Rumpelkammer seelischer Ablagerungen dienen. Zum anderen ist es die Angst vor der Stille nach dem Schluss. Kruse-Inszenierungen finden kein Ende; selbst wenn alles abgetan ist, könnte es fortdauern, bis irgendwann die normale Zeitrechnung wieder gilt und das Gewebe von Gespanntheit und Abschlaffung, Hitzigkeit und Coolness einen frei gibt. Manchmal sind die Stücke Nebensache, bloß Anlass für die Inbetriebnahme des Kruse-Karussells. Bei Harold Pinters »Geburtstagsfeier« ist es anders. Kruse unterwirft sich dem Text, auch wenn er ihn mit seinen typischen Zwischenräumen füllt und seltsame Inseln im Strom der Handlung schafft. Da passiert dann wenig und doch das Eigentliche während lässig konzentriert gespielter Ein- oder Zweisamkeiten. Natürlich geht es nicht ohne die musikalische Liturgie – den speziellen Sound, bei dem Rock und Beat, der sogar Beethoven integrieren kann, teils ohrenbetäubend wummernd aufgedreht wird. Trotzdem ist es ein eher zart besaiteter Abend. Eine stille Revolte.
Entstanden 1957 als Pinters erstes großes Frage-ohne-Antwort-Stück und deutsch erstaufgeführt in Kruses Geburtsjahr 1959, fühlt sich der Irrwitz des Ungewissen besonders gut in den saturnischen Kruse-Kosmos ein. Dem Realen ist zwar der Boden entzogen, aber unterirdisch wirken die Erschütterungen tatsächlicher Gefahr und Gewalt. In Kölns Schlosserei reißt die Gitarre den Blues, man hört Meeresrauschen, Möwengeschrei, das Tuten von Schiffen und das girrende Lachen zweier Sirenen, die über die Veranda huschen und sich das Haar kämmen wie eingemeindete Loreleien. Volker Hintermeier hat die Bühne mit Gemütlichkeit voll gestopft, hinter den Fenstern zieht sich schmal die Silhouette der See. Wenn Jan-Peter Kampwirth und Michael Weber als Agenten des Schicksals auf- und aus dem gerahmten Blau heraustreten, könnten sie einem Magritte-Gemälde entstiegen sein. Der eine penibler Handlanger einer namenlosen Todesmaschine, dem die eigenen Neurosen Struktur geben, der andere ihr verteufelt smarter und leutseliger Propagandist.
Paten dieser Aufführung in ihrem verstaubten Charme sind John Huston, Brando und Edward G. Robinson, auch wenn Kruse das Gesetz der Schwarzen Serie bricht und zitathaft komisch darbietet. Was sich in der Pension eines britischen Seebades manifestiert, wo bei dem Ehepaar Boles ein einsamer Gast, Stanley Webber, logiert, bis zwei Besucher, Goldberg und McCann, vorsprechen und nach einem Party-Schwoof mit Verhör und foppender Quälerei Stanley wegschaffen, wird von Kruse in schummriges Halbdunkel gehüllt und in den Underground seines heroischen Fatalismus geführt. Dazu taugt im Besonderen die Profession von Stanley als Piano-Player und dessen Besetzung mit Lucas Gregorowicz, der so wirkungsvoll inszeniert wird wie ein Johnny Depp. Ein Märtyrer des Widersinns, der wie eine Blume knickt, bis nur noch ein gequältes Fiepen, Röcheln und Krächzen aus Stanleys Kehle dringt. Erlösung kann es hier nicht geben, nicht mal mit Hilfe von Jürgen Kruses Ritualen und Unendlichkeits-Formeln. // AWI
Zu Tisch
Wagners »Ring« am Aalto: Hilsdorfs »Walküre«
// Lange hatte Dietrich Hilsdorf sich Wagner verweigert. Die Hermetik des Gesamtkunstwerks und die Einengung des Gestaltungsspielraums durch den allwissenden Komponisten waren ihm suspekt; zudem blockierten ideologische Bedenken den Zugang. Doch hat sich der Mozart- und Verdi-Könner überreden lassen und (nach einem verhalten aufgenommenen »Tristan« in Wiesbaden) die »Walküre« am Aalto inszeniert, dem Ort seiner größten Erfolge. Doch diesmal wusste man in Essen nicht so recht etwas anzufangen mit seiner ungewohnt defensiven Annäherung. Tatsächlich bleibt Hilsdorfs skrupulöse Hassliebe zu Wagner den langen Abend über hemmend spürbar, als habe er seine Vorbehalte mit Macht verdrängt, einerseits versucht, vorurteilsfrei an die Arbeit zu gehen, zugleich aber das Wälsungenblut mit zu viel Respekt zu betrachten. Hilsdorf hält sich das Werk mit spitzen Fingern vom Leib, indem er die Weltuntergangssaga zum Bürgerdrama à la Strindberg stilisiert. In Dieter Richters morbid monumentalem, klassizistischem Einheitsraum, halb Villa Hügel, halb verfallende Reichskanzlei, wird eine lange Tafel zum Epizentrum der Verdammten und ihrer Konflikte. Doch die grandiose Bühne erschwert die Logik des Verlaufs, ohne den Ausweg in die Abstraktion zu bieten. Hilsdorf, der sich wie auf Entzug die Droge Wagnerscher Effekte versagt, bietet ein Kammerspiel subtiler Gesten. Der Walkürenritt ist ein angedeutetes Tänzchen mit untoten Helden; am Ende muss die verstoßene Brünnhilde bloß am Tisch sitzen bleiben. Wotan, der ins Zentrum des Geschehens rückt, wird von Egils Silins mit anrührender Resignation gespielt und sonorer Autorität gesungen. Die musikalische Seite ist über jeden Zweifel erhaben. Catherine Foster singt eine schlank leuchtende, mühelose Brünnhilde, Daniele Halbwachs eine lyrisch weiche Sieglinde, Jeffrey Dowd den strahlenden Siegmund; meisterhaft synchron tönen die Walküren. Stefan Soltesz wählt ein packendes Tempo und schafft hohe Transparenz. // REM
Mal dies, mal das
Pina Bauschs neuer Tanzabend in Wuppertal
// Schon seit Jahren besteht die eigentliche künstlerische Tätigkeit Pina Bauschs darin, ihre großen alten Stücke wiederaufzuführen. Weil dies allein aber zu museal wäre, gibt es jedes Jahr eine Neuproduktion. Von der Neues jedoch kaum mehr zu erwarten ist. Vielmehr eine unendliche Wiederholung des Bausch’schen szenischen und tänzerischen Repertoires, inszeniert mit gewiss unendlicher Kunstfertigkeit. So auch dieses Mal. Bei dem die Bühne des Wuppertaler Opernhauses ein leerer schwarzer Kasten ist, dessen heller Boden sich zu Schollen mit klaffenden Fugen auseinander schieben kann. Was er dann und wann tut, ohne dass sich daraus für die Choreografie etwas ergäbe.
Ohne weitere Bedeutung, aber elegant und zur guten Unterhaltung – das ist der unausgesprochene, aber deutliche Untertitel dieses (wie immer zunächst namenlosen) Abends. Eine Frau tritt auf, sinkt auf alle Viere. Zwei Männer kommen hinzu, tragen sie in dieser Haltung fort, da heult sie sofort sirenenhaft auf. Das wiederholt sich. An einer Stange im Kreis laufen wie ein Pferd an der Longe, das aber mag sie. Später nehmen andere Männer die Frau in die Arme, reichen sie weiter wie einen Ball oder eine Beute, aber es bleibt ein Spiel. Dann gibt es das stille Solo einer Frau. Dann kommen die anderen acht Frauen ebenso still hinzu und jede von ihnen verliert kleine Steine. Dazu wie immer redundant-suggestive Musik. Dann dreht einer der neuen, jungen Tänzer eine Pirouette. Dann jagen zwei Männer sich im Kreis. Dann dies, dann das. Szenen von schlichter Komik oder gönnerhafter Erotik folgen Tanznummern von hoher Konventionalität. Einmal wirft ein Mann schnatternden Frauen Kartoffeln zu, die diese zu fangen suchen. Einmal sitzen alle und spucken Weinkorken aus. Szenen wie diese waren früher einmal ungeheuer aufgeladen. Jetzt zeigen sie nur noch die sanfte Beliebigkeit, zu der die Tanztheatergeschichten Pina Bauschs hinabgesunken sind. Das Gastland diesmal war übrigens Chile. Man merkte es manchmal an der Musik. // UDE
Wo laufen sie denn?
Mozarts »Entführung« am MIR
// Mozart zum Anfassen: Das Orchester sitzt ebenerdig in enger Reihung und stapelt sich an den Seiten steil in die Höhe, dahinter die schmale Bühne ebenfalls zum Greifen nah. Laborbedingungen im Kleinen Haus der Musiktheaters mit Revier (das große Haus wird saniert) für Mozarts Singspiel, die dröge Akustik schmeichelt nichts weg, der Raum lässt wenig Distanz und Auslauf. Doch trotz drangvoller Enge, die nach Purismus verlangt, ist es auf Elmar Gehlens Bühne ziemlich voll. Der Regisseur und Ausstatter hat in altväterlich abstrakter Manier Prospekte und mobile Elemente kunterbunt bepinselt, als wolle er Miró Referenz erweisen. Die naive Farbigkeit lässt an pädagogisch wertvolle Kinderoper denken. Wo man sich befindet, wird erst durch Martina Feldmanns Kostüme deutlich: Die sparen nicht mit Pumphosen, Schleiern und Troddeln. Orient also. An Aktualisierung scheint der Aufführung wenig gelegen, ganz aber lassen sich die politischen Bezüge der »Türkenoper« nicht bannen. Bleibt nur der Ausweg ins Kalauernde, was teils gelingt, teils des Guten zu viel ist: Situationskomik, Bewegung und szenische Einfälle sind alles. Pausenlos rennen die Darsteller umher, verlieren sich aus den Augen, laufen wieder los, stoßen zusammen, purzeln übereinander. Das hält Mozart aus; wo die Witze zünden, bekommt es ihm sogar. Um Charaktere schlüssig voneinander abzugrenzen, taugt die Methode jedoch nicht.
In Gelsenkirchen stellen sich Sinn und Form indes auf direktem Weg über die Musik her. Samuel Bächli, seit 2001 Musikdirektor des Hauses, beschließt mit der Produktion seine 15 Jahre als Dirigent im Revier und übertrifft sich diesmal selbst, zumal auch die Ensembles kammermusikalisch schlank getaktet und die Sänger auf erfreulichem Mozart-Niveau sind. Durchdrungen vom Geist des Sturm und Drang, setzt Bächli auf Transparenz, Agilität und flexible, nervös pulsierende Tempi. Jede Formulierung und Phrasierung ist genau durchdacht. Nichts schleppt oder hängt durch, die Musik drängt vorwärts, gleichwohl ohne mechanische Hast. Ein sprechender, theatraler Mozart-Ton, wie man ihn selbst von Originalklang-Könnern selten hört. // REM
Die Treppe der Geschichte
»Capriccio« von Richard Strauss in Köln
// Vor etwa zwei Jahren hatte Christian von Götz’ »Capriccio« Premiere beim Edinburgh-Festival, wohin der dort neu amtierende Intendant Jonathan Mills Kölns GMD Markus Stenz mit dem Gürzenich-Orchester kurzfristig eingeladen hatte. Unter ungewöhnlich spontanen Bedingungen für ein großes Opernhaus mit langen Planungszeiten kam die aufwändige Koproduktion zustande, die nun auch in Köln, freilich in anderer, durchweg erfreulicher Besetzung und in fein durchsichtigem Klang zu erleben ist. »Capriccio« ist ein Sorgenkind im Werk von Strauss, nicht nur, weil in dem musikalischen Konversationsstück wenig passiert, sondern bloß wortreich im Salon der Gräfin Madeleine die Frage diskutiert wird, ob in der Oper dem Wort oder der Musik Vorzug zu geben sei. Was für eine seltsame Weltferne und – resigniertes? – Ausblenden der Realität, die Strauss bewies, als er inmitten des Zweiten Weltkriegs ein derart artifizielles Opus schrieb, dessen Uraufführung 1942 in München stattfand!
Christian von Götz findet einen Weg, die Gegenwart der Entstehungszeit in das Werk hineinzuholen, ohne ihm Gewalt anzutun. Die eigentlich im Frankreich des 18. Jahrhunderts angesiedelte Geschichte versieht er mit einer stummen Rahmenhandlung. Die Gräfin und ihr Bruder geben sich darin zunächst als Nazi-Günstlinge zu erkennen, bevor sie in Ungnade fallen. Der Graf, NSDAP-Mitglied, verhilft Juden bei der Beschaffung von falschen Papieren. Das beschert dem Geschwisterpaar Reichtum, sie stehen jedoch unter Gestapo-Beobachtung und werden schließlich überführt. Der Graf bringt sich um, die Gräfin wird am Ende abgeholt.
Eingefasst in diese Klammer, bleibt die Erzählung unangetastet. Das Eintauchen in eine vergangene Kunstwelt wird gedeutet als fataler Rückzug in den Elfenbeinturm, den die Ausstatterin Gabriele Jaenecke mit einer schwindelerregenden Wendeltreppe symbolisiert. Die grelle Rokoko-Maskerade wirkt in der Nachbarschaft der grauen Gestapo-Ledermäntel umso absurder und dekadenter. So erzeugt die Aufführung eine gewisse Fallhöhe, indem das Selbstreferentielle des ästhetischen Diskurses auf Eiseskälte herabkühlt. Einen geschützten Privatraum gibt es unter solchen Bedingungen nicht. // REM