// Märchen schreibt bisweilen sogar der Jazz. Die halbe Welt will die amerikanische Pianistin Carla Bley mit ihrem Quartett Lost Chords nach ihm abgesucht haben. Als man schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, passierte es endlich, im Jahr 2007, in Rom. Plötzlich erfüllten Trompetenklänge den Raum einer kleinen Kapelle des Vatikans. Der Himmel schien sich zu öffnen. Herunter geschwebt kam er, der sardische Trompetenengel Paolo Fresu! Eine schöne Geschichte, die Carla Bley da im Beiheft zu ihrer CD »The Lost Chords find Paolo Fresu« nicht nur erzählt, sondern auch noch mit (gestellten) Fotos dokumentiert.
Nun gut, wie ein leibhaftiger Engel sieht Fresu nicht aus. Wenngleich er kurz zuvor wohl noch schnell beim Barbier vorbei geflogen war, um seine wilde Mähne stutzen zu lassen. Kaum war Fresu in die heiligen Aufnahmestudio-Hallen gelotst worden, stellte sich sein gewissermaßen entmaterialisierter Trompetensound ein, mit dem sich der Italiener eine riesige Jüngerschar herangezogen hat. Statt zwischendurch vielleicht kratzbürstig die Skalen auf ihren Urzustand herunter zu brechen, beweist Fresu nur langen Atem. Seinen sanften Melodien schenkt er mal elegant leuchtende, dann wiederum melancholisch entrückte Wendungen.
Auch wenn man es in Momenten wie diesen glauben könnte, einfach vom Himmel gefallen ist der 48-Jährige dann doch nicht. Miles Davis und Chet Baker – das Echo der beiden Paten des lyrischen Trompeten-Jazz ist bei Paolo Fresu schon deswegen allgegenwärtig, weil er mit ihren Aufnahmen aufgewachsen ist. Bis heute bekennt er sich unbedingt zu seinen Vorbildern und ihrem warmen, poetischen Sound. In den USA, wo die Jazz-Kollegen entweder auf zeitgemäße HipHop-Trends setzen oder das afro-amerikanische Erbe verwalten, kommt Fresus kantable Melodik lediglich bei handverlesenen Fans an. Wie bei Carla Bley eben. In Europa hingegen gilt er als die Instrumental-Jazzstimme Italiens schlechthin. Kaum ein Festival, auf dem er mit einer
seiner zahllosen Bands und seinen diversen Projekten nicht aufgetreten wäre. In den Studios ist er Stammgast. Auf über 200 Schallplatten und CDs hat er mitgespielt und 30 eigene Aufnahmen produziert. Dass Fresu nicht ein Mann für eine Tonart ist, sondern ein Chamäleon, bewies er in den letzten zwölf Monaten – auf über einem Dutzend Einspielungen. Neben den Modern Jazz-Ausflügen mit Carla Bley taufte er sein Angel Quartet flugs in Devil Quartet um, um von zarten Balladen bis zu flockigen Rock-Jazz-Tempi einen Fusion-Bogen zu schlagen. Nachdem er gerade mit dem vietnamesischen Duo Huong Thanh & Nguyên Lê exotisch schöne Weltmusik-Blüten getrieben hatte, steckte er mit dem italienischen Barden Gianmaria Testa den Kopf zusammen – für eine Referenz an den französischen Chanson-Rebellen Léo Ferré.
Für das Auftragswerk »The Italien Songbook«, das er für das Traumzeit-Festival komponiert hat, bringt er nach Duisburg nicht nur das eingespielte Devil Quartet-Team mit. Als Frontfrau erwählte er sich die in Italien hoch gehandelte Sängerin Paola Turci. Wie Fresu bereits mit dem Album »Kind of Porgy and Bess« eine eigenwillige Fortschreibung auch des Miles Davis-Klassikers »Kind of Blue« gelungen war, hat er nun mit »The Italian Songbook« ein Pendant zum legendären »American Songbook« angelegt. Für Fresu können all die Opern-Arien und neapolitanischen Lieder, schlichten mediterranen Melodien und Schlager absolut mit den Standards von Cole Porter, George Gershwin & Co konkurrieren.
Mit dieser musikalischen Zeitreise zurück in die Gegenwart schreibt Fresu nicht nur das Kapitel einer Folklore Imaginaire fort, die vor über 30 Jahren von französischen Jazz-Musikern via Italien exportiert worden war. Das Bewusstsein für die Tradition und volksnahen Belcanto-Melodien besitzt Fresu schon seit der Kindheit. Bevor es ihn die Welt zog, um geschwind zahlreiche Preise als bestes Jazztalent einzuheimsen und im Alter von 25 Jahren Jazz-Professor zu werden, lernte er gründlich die heimische Musiklandschaft kennen. Mit elf Jahren zog er, wie ehemals die Urgroßväter mit ihren Blasinstrumenten, von Dorf zu Dorf, spielte er in den Banda-Kapellen und auf der Trompete Märsche, überlieferte Canzones und nicht zuletzt Arrangements von Opern-Ohrwürmern Verdis und Puccinis. Diese gute alte Schule hat ihn derart geprägt, dass er auf deren Pensum ständig unter den Vorzeichen des Jazz zurückgreift, sie es mit seinem Mare Nostrum Trio oder mit dem P.A.F.-Trio, hinter dem neben Fresu der Pianist Antonello Salis und der Bassist Furio Di Castri stecken.
Mit seiner Neugier und Lust, »die Modernität unserer reichen musikalischen Historie aufzuzeigen«, hat er speziell in Italien eine Renaissance des Jazz ausgelöst. War die Szene in den 70er Jahren geradezu erstarrt, nachdem sich das Publikum von dem als zu intellektuell und sperrig empfundenen Free-Jazz abgewandt hatte, boomt der Jazz wieder in allen Instituten, Clubs und selbst noch geografisch entlegenen Ecken. Im Sommer ist keine Piazza zu klein für Konzerte. Ins beschauliche 3.000-Seelen Dorf Berchidda, in dem Fresu 1961 geboren wurde, fallen jährlich 40.000 Besucher ein, um mitzuerleben, wie Fresu sich zum »Time in Jazz«-Festival mit namhaften Gleichgesinnten zusammentut. Etwa dem Akkordeonisten Richard Galliano, dem Klarinettisten Gianluigi Trovesi oder seinem eigentlichen musikalischen Ziehvater, dem Trompeter Enrico Rava. Gemeinsam bringen sie die alten Mittelmeer-Weisen mit Swing, Bebop und elektronischen Sounds auf den aktuellen Stand. Wobei über allem stets der Melodiker Fresu schwebt. Schließlich, so der Sarde, seien Melodien für ihn »die wichtigsten Elemente in der Musik«. Forza also – Orpheus Fresu! //
Traumzeit-Festival, 3. bis 5. Juli 2009, Landschaftspark Duisburg-Nord; www.traumzeit-festival.de