// Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieser Tod auf der Bühne ankommen würde. Schade allein, dass das Opfer des Mordes, Claude Vivier, nicht selbst daraus eine Oper hat machen können – sie wäre gewiss großartig geworden: schön, sinnlich, sentimental, trotz all des Blutes. Die Handlung der Oper: Ein freundlicher, sympathischer, etwas schüchterner junger Mann ist auf der Suche nach der eigenen Identität. Als Kind ist er zur Adoption frei gegeben worden. Er will wissen, woher er kommt, vermisst seine Eltern, die er nie kennen lernen wird, irrt durch die Welt und kommt nicht weg von dem beklemmenden Gefühl, ganz allein zu sein.
Der junge Mann träumt von der Liebe, die ihm keiner gibt, von Geborgenheit, von Verständnis und Versöhnung. Sechzehnjährig tritt er ein ins Priesterseminar und hat dort ein Erweckungserlebnis, das in jeder Künstlerbiografie eine rare Kostbarkeit darstellen würde: In einer Mitternachtsmesse entdeckt er beim gemeinschaftlichen Choralgesang die Metaphysik der Musik: »Ich war ungemein fromm, ich hatte Gottvertrauen, ich wollte ein reiner Mensch sein, mich ganz hingeben. Musik, so wurde mir klar, ist für mich ein Weg zur Erlösung.«
Ob er auch seinen Tod als Erlösung empfunden hat? Seinen Mörder hat er selbst bestellt in seine Pariser Wohnung – einen Stricher, wie Vivier ihn sich damals wohl häufiger geleistet hat. Was dann genau passiert ist, wie das erotische Vergnügen zum Todesspiel und Verbrechen werden konnte, wurde nie eindeutig geklärt. Der immer noch junge Mann jedenfalls, Claude Vivier, liegt am Ende erstochen am Boden, neben sich, auf dem Arbeitstisch, die Partitur seines letzten Werks »Glaubst Du an die Unsterblichkeit der Seele?« Das Theater hätte es nicht besser inszenieren können.
Doch das Theater kann das Ganze natürlich noch einmal ganz anders inszenieren, und kann uns dann hautnah dabei sein lassen. Vor allem kann es Leben und Sterben Claude Viviers (1948–1983) und seine Musik zu jener existentiellen Einheit bringen, die sie für den Komponisten von jeher gewesen sind.
Der Regisseur David Hermann, Autor Albert Ostermaier und Dirigent Christoph Poppen scheinen genau dieses Ziel aus vollem Lauf anzustreben: Ihr »Ritual für Claude Vivier«, uraufzuführen in der Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck, trägt einen Titel, der nüchterne Dokumentation von vorn herein ausschließt und nebenbei die Legende vom Selbstmord durch Fremdeinwirkung nährt: »Sing für mich, Tod.«
Eine Oper? »Eine Mischform irgendwo zwischen Sprechtheater und Musiktheater«, verspricht Poppen. Im abseitigen Repertoire kennt der sich gut aus. Der langjährige Leiter des Münchner Kammerorchesters, seit 2007 Chefdirigent der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern, hat im Laufe der Jahre viel frisches Wasser in den musikalischen Mainstream geleitet und sich ausgiebig mit zeitgenössischer Musik beschäftigt. »Sing für mich, Tod« ist dennoch seine erste künstlerische Beschäftigung mit der Musik des Frankokanadiers.
Vivier ist eben ein Unbekannter. Ins wirkliche Hauptfeld der westlichen Avantgarde ist er nie vorgestoßen. Das frühe Finale in Paris mag ein Grund dafür gewesen sein. Wo Komponisten-Karrieren heute oft erst anfangen, war die Viviers schon zu Ende. Die Musik, die wir von ihm kennen, entstand binnen nur eines Jahrzehnts. Ein Glück, dass Vivier fleißig war, ein Glück auch, dass er, der Außenseiter, so viele Freunde und Förderer fand.
1948 in Montréal geboren, profitierte er als Québécois vom enormen Ehrgeiz, mit dem die einzige französischsprachige Provinz Kanadas ihre Künstler fördert. Québéc bot dem völlig mittellosen Studenten nach einer gründlichen Ausbildung in der Hauptstadt die Möglichkeit, seine Studien bei Gottfried Michael Koenig im elektronischen Studio von Utrecht und dann in Köln bei Karlheinz Stockhausen fortzusetzen. Und es half ihm ganz entscheidend durch die Finanzierung von Aufträgen und Aufführungen, die ihm bereits früh gestatteten, auch größere Werke hören und überprüfen zu können.
Für einen Komponisten, der so vehement im Farbspektrum des Instrumental- und Vokalklangs experimentierte, wird das von kaum zu überschätzendem Wert gewesen sein.
Nach dem musikalischen Schlüsselerlebnis in der katholischen Abendmesse, der Ausbildung bei Gilles Tremblay in Montréal und der Zeit bei Stockhausen in Köln gibt ein weiteres Erlebnis der Karriere Viviers einen nachhaltigen Schub: Im Herbst 1976 macht er sich auf zu einer langen Asien-Reise. Sie führt vor allem zur befreienden Begegnung mit der Kul-tur Balis. Wie einst Paul Gaugin auf Tahiti, so stieß Vivier fast ein Jahrhundert später in Indonesien auf eine ihm ganz und gar paradiesisch anmutende Welt, die all das zu bieten scheint, wonach er sich als Künstler und Christ zeitlebens gesehnt hatte: Einfachheit, Anmut, Liebe und Kindlichkeit.
In der Kultur Balis findet Vivier nicht nur persönliche, sondern auch musikalische Motive wundersam gespiegelt, vor allem sein Faible für die Monodie, die einstimmige Melodielinie, die in Europa nach ihrer Blüte im Gregorianischen Choral zugunsten der Polyphonie das Feld räumen musste. Homophonie, also Gleichlaut der Stimmen, und Homorhythmie, die Gleichheit des Rhythmus’, schreiben sich nun tief ein in jedes seiner Werke. Die späten zumindest sind purer Melos: penibel aufgebaut auf komplexen Akkord- und Obertonstruktu-ren, doch dem Ohr unmittelbar verständlich. Für Vivier war Melodie alles andere als billige Konvention.
In Ableitung klassischer Zeitphilosophien von Augustinus über Husserl bis zur so genannten Momentform seines Lehrers Stockhausen erkannte er in ihr den Schlüssel zum Verständnis des eigenen Hier-und-jetzt-Daseins: »Unsere menschliche Zeit hat nur eine Richtung: Zukunft. Was nicht zukünftig ist, gehört zur Vergangenheit. Den Punkt zwischen den beiden Polen möchten wir nach Möglichkeit festhalten – er heißt Gegenwart. Er heißt in unserer Sprache auch Hoffnungslosigkeit. Das Bedürfnis, diesen Moment festzuhalten und zu fühlen, heißt Lust. Durch diese Lust bekommen wir Kunst, bekommen wir Musik.«
Und Kitsch. Viviers Musik trägt schwer an der Last des eigenen Erlösungsanspruchs. Ihr Autor sah sich nicht genötigt, die Emphase, die ihn antrieb, kompositorisch zu mildern. In Werken wie dem Chorstück »Lonely Child«, eine der drei verwendeten Partituren in der Triennale-Produktion, geht es zu wie im Arztroman: »Die sanfte Sonnenblume lenkt zu den Sternen die erhabene Energie, Tazio, die Zunge der Feen wird zu dir sprechen und du wirst die Liebe sehen, Tazio, zärtlich werden deine grünen Augen in den Lumpen überjährter Mären wühlen, um eine wahre Geschichte zu schöpfen, die deine.«
Doch Viviers Kitsch hat großes Format. Er wird in seinen besten und dann wirklich glorreichen Augenblicken sanktioniert von einem außerordentlichen kompositorischen Gespür für die Verwaltung von Klang und Zeit. Und ein klein wenig wird das Gefühls-Bonbon wohl auch sanktioniert vom realen Leben und Sterben seines Autors: Würden wir es nicht wissen und bald wieder sehen, wir würden es kaum für möglich halten, dass es einen wie Claude Vivier tatsächlich gegeben hat. //
Maschinenhalle Zeche Zweckel, Gladbeck: 5., 6., 8., 11., 12. und 13. September 2009. http://www.ruhrtriennale.de/