// Das Gesicht vergisst man nicht. Ein wildes Gesicht, und ein herausforderndes. Aber stimmt das überhaupt, nur weil es sich nicht in klassisch harmonisches Ebenmaß fügt? Wenn unter Schönheit Maß und Mitte verstanden wird, wäre Wolfgang Michael vom ästhetischen Ideal ein Gutteil entfernt. In den Trümmerlandschaften, die Kleist auftürmt und einstürzen lässt, scheint der Schauspieler am rechten Platz. War es etwa als Graf Wetter vom Strahl, den das Käthchen von Heilbronn zum Baum der Erkenntnis führt, der in den Dramen des Dichters wächst und verbotene Früchte trägt. Vor allem, wenn eine Regisseurin wie Andrea Breth sich den Paradiesgärten widmet, ob sie im Gebirge, bei Hofe oder zu Husum am Meer angelegt sind. Breth bereitet für die Ruhrtriennale ihre zweite Inszenierung von Kleists »Der zerbrochne Krug« vor (die erste gab es 1990 am Burgtheater) – Wolfgang Michael ist, wie so oft seit 1987, dabei.
Doch zurück zum Anfang und aufs Neue versucht. Der Gegensatz wäre auch richtig. Das Gesicht vergisst man nicht. Ein freundliches Gesicht, die Augen schmal, die Lippen weich und zerrissen, die Wangen in Falten gelegt, etwas gefurcht. »Schön ist nur, was ernst ist«, sagt der Doktor in Tschechows »Möwe«. Das lässt sich auf Wolfgang Michael münzen. Aber in dem rauen Lachen, das er ausstößt, ist Sinn für Witz und Aberwitz hörbar.
Wir sind in Wien verabredet, nicht im »Schatzkästlein« I. Bezirk, wie er lästert, sondern im VII., wo Straßen und Häuser verlottert und zerschlissen aussehen. Hinterm Café Ritter ragt klobig ein Flakturm, auf dessen Beton gepinselt steht: »Zerschmettert in Stücke (im Frieden der Nacht)«, als böte er die Kulisse für Karl Kraus’ Weltenbrand. Die Umgebung passt. Besser als das heiter goldene Wiener Barock. Eine Gegend für Einzelgänger. Nachtschwärmer. Raucher. Wolfgang Michael hat »Geschichten aus dem Wiener Wald« dabei – in dem Stück wird er demnächst auftreten. Horváth, noch so ein österreichischer Nationalunheiliger. Mit Wien, wo er für ein Burgtheater-Jahrzehnt engagiert war, tut Michael sich schwer. »Hermetisch, ausgrenzend« sei die Stadt, »ein geschlossenes System«; »undeutlich« seien die Menschen: »Irgendwie bleibt man draußen.« Für Wolfgang Michael eine vertraute Position.
Obwohl Verbindlichkeit ihm nicht unbedingt ins Gesicht geschrieben steht, wirkt er aufgeräumt. Vielleicht auch deshalb, weil sich Dinge gerade klären, endgültig, so oder so. Er löst seine Wiener Wohnung auf, um wieder ganz nach Berlin zu ziehen und zusammen zu wohnen mit der Kollegin und Gefährtin Corinna Kirchhoff. In Frankfurt gehört er ab Herbst zum Ensemble von Oliver Reese. Eine kleine Rückkehr findet – für Breths Kleist-»Krug« – nach Essen statt, wo er Ende der 70er die Folkwang-Schule besucht hat. Eine weitere Zäsur: Soeben hat er seinen Vater begraben. Und noch etwas ist geschehen, woran vor Jahr und Tag nicht zu denken gewesen wäre. Auf dem Tisch vor uns liegt die Zeitung mit der Traueranzeige für Jürgen Gosch.
Neben Breth war Gosch, vor vielen Jahren in Bremen und Bochum und zuletzt wieder in Berlin und Zürich, der wichtigste Regisseur für Wolfgang Michael. Er erinnert sich an die erste Begegnung, in Bremen, mit dem von der DDR aussortierten Gosch, der noch nicht sehr im Westen angekommen war. »Hamlet«-Proben. Das Ensemble war geeicht auf Peter Steins intellektuelle Diskurse. Gosch sprach kaum, ab und an sein gedehntes »jo«. »Es war ein Hammer«, sagt Michael, das sagt er gern – in dem Bild schlägt die Wucht, das Elementare auf. Er spielte den Laertes und sei derart verstört gewesen von Goschs Methode des Lassens und Schweigens, dass er buchstäblich nichts habe herausbringen können auf der Bühne, sein Stottern zurückgekehrt sei, an dem er früher laborierte. Gosch beließ die Szene der Sprachhemmung so bis zur Premiere, unverändert.
Manchmal kann Wolfgang Michaels Gesicht schier explodieren, als bereite sich unter der Haut etwas vor, das an die Oberfläche vordringt.
Um zu beschreiben, was seine Rollen erkennen lassen, wäre die Charakterisierung Komischer Tragöde angebracht: schroff und schräg, ruppig und rigoros. Verweigerung und Widerstand scheinen produktive Kräfte freizusetzen, oder zerstörerische. Auf existentielle Weise sind seine Figuren Deklassierte. Wölfisches Wesen liegt in ihnen auf der Lauer. Die Miene verzerrt sich, als gäbe es an Bitterem zu kauen, sie bringt sich wieder ins Lot, indem sich Verzweiflung eine stoische Maske aufsetzt.
Die Dramengestalten, die Michael aus einer gewissen Distanz heraus, lakonisch und ohne Pathos verkörpert (Machtmenschen sind keine darunter, dieser Trieb scheint kein Impuls für ihn), verketten sich zur Reihe. Eine Geheimkorres-pondenz. Sie reicht vom Leutnant Ian Wiczewski in der triumphalen Neuentdeckung von Julien Greens »Süden«, worin am Vorabend des Sezessionskriegs unglückliches religiöses Bewusstsein das Begehren verbietet und der Mensch am Verhängnis Liebe zu Grunde geht. Bis zu Ibsens genialischem Ejlert Lövborg, zu Tschechows Astrov und Trigorin oder zu Kleists versunkenen Helden und Gefühls-Terroristen. Aspekte von Verblendung und Selbsterkenntnis, Selbstekel und Selbstheilung einen sie. Der unstete Blick flackert in ihnen. Oft innerlich wie ausgehöhlt, zersetzt vom Traurigsein, gequält von der Einsicht ins Sinnlose, gemütstief, direkt und schamlos sind sie. Die Katastrophe ist nahe.
1955 wurde Wolfgang Michael in dem Weiler Waldfeucht geboren, auf halbem Weg zwischen Mönchengladbach und Aachen. Was für ein Name!, auch wenn die Ortschaft sich gar nicht auf einen nassen Forst bezieht, sondern auf einen Ritter, Walter von Vechta. Ein Biotop war die
Jugend für ihn nicht. Das Dorf schien ihm, »als führe er in einen Tunnel hinein, ohne Licht am Ende«. Schwierig das Elternhaus, auf das er mit »Abkehr und Abwehr gegen die Umklammerung« reagierte. Fluchtimpulse, auch vor der katholischen Prägung. »Man wird verschlossen, neurotisch, unzugänglich und krank. Geht in die innere Emigration.« Seither gilt: »Familie wollte ich nie.« Die Frage erübrigt sich, was ihn motivierte, Schauspieler zu werden, weshalb er zum Beruf machte, was selbst dem permanenten Ausnahmezustand gleicht.
Äußerer Anlass war die Lektüre des Absurden bei einem Lehrer, der zum Mentor wurde und den renitenten Schüler in die Pflicht nahm, der sich mit Halluzinogenen und anderen Drogen zudröhnte und die »schwarze Schule der Einsamkeit« (Paul Nizon) besuchte. Non scholae, sed vitae … »Der Mann hatte eine entwaffnende Schlichtheit, er stand wie ein Axiom vor mir.«
Die Literatur traf, sagt Michael, »mein Empfinden von der Welt sehr genau«. Diese fast romantische Verlorenheit, Sartre, Camus, der Mythos von Sisyphos. Der Gymnasiast probte den Hamm in Becketts »Endspiel«. »Es war wie ein Urknall, ein Schock, aber ein schöner Schock. Dann hab’ ich es wieder vergessen. Meine kleine Primanerseele konnte das noch gar nicht fassen. Aber wenn man einmal die Ungeheuer in sich hat, bleiben sie auch in einem.« Die Dämonen begleiteten ihn, zum Vorsprechen an die Folkwang, wo man ihn annahm. Das Abitur musste noch nebenbei erledigt werden.
Es ist ja nicht so, als gäbe es für Wolfgang Michael die Sehnsucht nach Aufgehobensein nicht. »Wie eine Graugans« unterliege er Prägungen. In Bochum zum Beispiel habe er gleich am ersten Tag ein Lokal besucht, das »Intershop« im Bermudadreieck, als es dort noch nicht so rummelig war, und fortan jeden Abend »Hopper-mäßig« dort gesessen. Eine Art von Zuhause – neben der ernsthaften Arbeit mit Menschen, »die sich nicht begnügen mit einfachen Lösungen, die den Wunsch haben, etwas auszugraben«. Für die es hinterm ersten aufgezogenen Horizont weitergeht. Mit Gosch entstand »Endspiel« – Michael nun in der Rolle des Clov, um Becketts schwarzweißen Zustand zu produzieren. Wichtig wurde Steckel (»ein Skandal, dass er nicht beschäftigt wird«) und Breth. »Wir kamen beide aus dem Sumpf. Ohne groß drüber zu reden, floss diese Erfahrung in Stücke und Figuren. Vieles funktioniert zwischen uns telepathisch.«
Über Probenprozesse und das allmähliche Verfertigen von Theater kann er wenig sagen. Fragt besorgt: »Verstehen Sie, was ich meine?«. Nennt Breths Geduld, »das Hinwarten auf etwas«, das Inhalieren des Textes, das Vertrauen, um etwas zu riskieren. Erwähnt »Momente am Rande, die man zocken kann«, wie den zwischen Trigorin und der »Möwe« Nina, wenn an der Rampe der Schaubühne der Dialog zwischen ihm und Imogen Kogge aussetzte und die Stille tosend zu werden schien.
Die Frage schlechthin lautet, ob zwei, die übers Theater sprechen, einer, der es macht, und einer, der zuschaut, überhaupt das Gleiche meinen. »Es sind komplett unterschiedliche Wahrnehmungen und Realitäten.« Farbe, Form, Raum, Ordnung, Chaos, Improvisation setzen sich ins Verhältnis und schaffen einen unerklärlichen Zauber – oder auch nicht. »Mal reicht es einfach aus, da zu sein, mal nicht. Mal ist es gut, etwas zu wissen, mal nicht.« Das Geheimnis wird nicht gelöst.
Breth ist eine große Exegetin, so wie sie Schiller, Schnitzler, Lessing, Kleist, Tschechow seziert und Gewissenserforschung betreibt. Bei ihr stehe »immer eine Metaphysik dahinter«, ohne Scheu vor der Behauptung von Fluch und Gnade, Paradies und Höllenkreis, Erlösung und Auferstehung. Da sind für Wolfgang Michael die christlichen Geister der Kindheit wieder da.
Gosch war meditativer und zugleich konkret. Keine Interpretation. Kein Wirken-Wollen. Übersinn gehört nicht zu Sache, zunächst. Vielleicht war er diesseitiger. Sein Ort: der Kinderspielplatz. Die Anarchie des Spiels. Das schöne schäbige blutige Reich des Scheins, in dem Menschen sich gehen lassen und bei sich ankommen. Aber das Rituelle seines Theaters schuf ebenfalls Transzendenz, brach das Kontinuum von Zeit und Dauer und machte deren Dimension ansichtig.
Fragmente einer Sprache des Körpers, Bruchstücke statt der polierten Rundungen von Biografie: Wolfgang Michael bei Schimmelpfennig / Gosch als pikierter komischer Vogel und gerupfter Marabu »Im Reich der Tiere« und als Bräutigam Georg, zerknautscht, die Lider hängend, die Haare zauselig. Ein ramponier 68er-Freak, der zum Rächer eines Splattermovies mutiert und die Backen zum Massaker bläst. So sitzt er in »Hier und jetzt« an der Hochzeitstafel, durchlebt sein Missvergnügen und tut, ja was eigentlich? »Ich muss mich darauf verlassen, dass ich so etwas wie eine Projektionsfläche bin«. Gezwungen zu einer gewissen Passivität, die sich zuweilen eruptiv entlädt, schaut er fremd auf die eigene Situation und kontrolliert seine präsente Abwesenheit. »Du brauchst Patronen, die ins Herz treffen«, sagt Schimmelpfennigs Hochzeiter Georg. An dieser Munition fehlt es Wolfgang Michael beileibe nicht. //