// Das Abendbrot haben sie schon geschafft. In gut drei Stunden wird der Herbergsvater im Innenhof der sauerländischen Burg Bilstein mit einem Dudelsacksolo zur Nachtruhe blasen. Noch Zeit genug also, um im glockenhellen Chor etwas von »Pink« anzustimmen. »Na na na na na na na, na na na na na na«. Vielstimmig hallt es durch die weitläufigen Korridore. »So what! I’m still a rock star.« Bis hinein in die rustikal anmutende Eingangshalle, die bis unter die Decke mit Jagdtrophäen ausstaffiert ist. Was nicht heißt, dass für ausgeschnittene Zeitungsartikel nicht auch noch Platz wäre. Zu lesen ist da, dass zwei benachbarte Hauptschulen ein Projekt zum Gewaltverzicht gestartet haben, und dass die Initiative »Jedem Kind ein Instrument« in der Region angekommen ist. Auch ein Bericht über eine kleine Privatbrauerei in Oberveischede findet sich neben sorgfältig aufgereihten Fotos, die eher unsystematisch Tiere und Pflanzen der Umgebung zeigen. Nicht zu vergessen die Karnevalsgesellschaft Attendorn, die durch eine kleine, goldbeschlagene Tafel gewürdigt wird.
Am Herbergskiosk herrscht Gedränge. Hier gibt es die kleinen Stofftiere, die unten, im Gewölbe der Burg, wo auch die Tischtennisplatte steht, in einer Glasvitrine zur Ansicht ausgestellt sind: Brunnenfrösche, Turmeulen und das Burgschwein Eberhard. Plastikritter hat die Herbergsmutter natürlich auch im Sortiment. Nur die große schwarze Weichgummi-Spinne an ihrem Revers ist unverkäuflich. Doch an der Durchreiche wird vor allem um die schlüsselanhängergroßen Stoffhamster geschoben und gedrängelt. 2,90 Euro kostet so ein Nager. Das ist leicht mit dem Pfandgeld zu bezahlen, das sich im Laufe eines längeren Jugendherbergsaufenthalts ansammelt. Denn von Früchtetee allein ist der Durst der überwiegend jungen Gäste kaum zu stillen. Deshalb stehen ein Stockwerk tiefer neben dem Plüschtierschrein auch noch ein Eis- und ein Getränkeautomat. Sie kühlen all das, was Richard Schirrmann, der Gründer des Jugendherbergswerkes, in seinen Häusern nicht gerne gesehen hätte.
Es war eine stürmische Nacht, in der der Jugendherbergsgedanke geboren wurde. Eine jener Nächte, in denen es blitzt und donnert und reisende Menschen mangels schützender Alternative bei Gott Zuflucht suchen. Oder aber auf die Idee kommen, ein flächendeckendes Netz von Wanderheimen über das Land zu ziehen: Richard Schirrmann, seit 1903 Lehrer an der Nette-Schule im sauerländischen Altena, war mit seinen Schülern Richtung Aachen unterwegs, als die Gruppe am zweiten Tag ihrer Wanderschaft im Bröltal in ein heftiges Unwetter geriet. Nur mit großer Mühe gelang es dem Lehrer, eine Notunterkunft in einem leer stehenden Klassenzimmer zu organisieren. In der Nacht vom 26. August 1909, so die Legende, fasste Schirrmann den Entschluss, an »jedem wanderwichtigen Ort in Tagesmarschabständen … eine gastliche Jugendherberge zur Einkehr für die wanderfrohe Jugend Deutschlands ohne Unterschied« einzurichten.
Getragen wurde Schirrmanns Idee vom wandernden Klassenzimmer von einem zivilisationskritischen Fundament. In Bulmke, einem Vorort von Gelsenkirchen, sah sich der 1874 in Grunenberg/Ostpreußen geborene Schirrmann auf seiner ersten Station als junger Lehrer mit großstädtischem Kinderelend konfrontiert. Hier erlebte er, wie er rückblickend schreiben sollte, »die Unnatur der Großstadt« und den »Tanz der Herdenmenschen um das goldene Kalb, die Raffgier und Vergnügungssucht in Villenviertel und Arbeiterkolonie«. Dem wollte er ganz romantisch und im lebensreformerischen Ton der Jahrhundertwende begegnen: mit Naturverbundenheit und verschärftem, nikotinwie wirtshausfreiem Wandern.
Obwohl zu dieser Zeit lange schon bürgerliche »Wandervögel« auf der Suche nach Freiräumen für ihr Jungsein singend durch Wälder und Wiesen zogen, traf der »wanderdolle Lehrer« Schirrmann mit seiner Idee vor allem bei Kollegen auf Widerstand. So sollte es drei Jahre dauern, bis 1912 mit der Burg Altena die erste ständige Jugendherberge hergerichtet worden war. 1925 verzeichnete der 1919 gegründete »Zentrale Hauptausschuß für Jugendherbergen« dann schon 2100 Häuser, teils eigenständige, teils provisorische Einrichtungen.
Hell sollten die Herbergen sein, einfach, harmonisch und zweckdienlich eingerichtet. Denn Schirrmann und seine Mitstreiter waren auf volkserzieherischer Mission und von der geschmacksbildenden Kraft ihrer »Wanderheime der Jugend« überzeugt. Deshalb mussten die Anlagen den jungen Gästen ein »vortreffliches Vorbild bei der späteren Gründung des eigenen Hausstandes« sein, was umzusetzen in Zwischenkriegszeiten natürlich nur schwer gelingen konnte.
Die letzten steilen Meter hoch zur Burg Bilstein geht es im ersten Gang. Vom Besucherparkplatz aus geht es dann das letzte kleine Stück zu Fuß weiter. Wem das zu wenig gewandert ist, der kann auf dem Rundweg ein paar Kilometer durch den Wald spazieren, mit der Garantie, nach etwa zwei Stunden wieder an der Burg Bilstein anzukommen. Allein die Einrichtung eines großzügigen Autostellplatzes aber zeigt, dass Wanderer Jugendherbergen schon lange nicht mehr voll machen; und die Türme von Wodka-Flaschen in den großen Abfalleimern am Eingang der Burg lassen vermuten, dass das Alkoholverbot dort noch immer nicht ernst genommen wird – zumindest von denjenigen nicht, die es betrifft. Mittlerweile halte man für die volljährigen Gäste ohnehin ein »gepflegtes« Angebot an Qualitätsweinen bereit, sagt der Herbergsvater. Schließlich sei eine Jugendherberge auch ein straff geführter Wirtschaftsbetrieb und ein Ort, an dem die Erlebnispädagogik die Volkserziehung abgelöst hat.
Seltsame Formen nimmt das Marketing hier an, wie die einer riesigen Schnalle, die als plastisch geformter Ritterhelm den Gürtel des Herbergsvaters zusammenhält. Nachtwanderung, Rallye, Abseilen vom Burghang, oder einfach nur Freundschaftsbändchen flechten – so vergehen auf Burg Bilstein die Tage. In den warmen Monaten werden Grillplatten angeboten, die je nach Üppigkeit »Bergknappe«, »Landsknecht« oder »Burgherr« heißen. Thematisch befindet man sich eben noch im Mittelalter, beriebswirtschaftlich müssen sich die Herbergseltern so gut es geht im 21. Jahrhundert einrichten.
Anfang der 1960er Jahre beklagte Wilhelm Münker, Mitbegründer des Deutschen Jugendherbergswerks, die »Sucht nach Wohlleben«, die alles herunterziehe. »Motor und Mode, Genussucht und Trägheit«, so heißt es da, »lähmen nicht nur den Wandertrieb, sondern sogar die einfache Gehlust und Gehfähigkeit.« Doch da hatte der ideologische Umbau des DJH schon begonnen, mit dem vorläufigen Ende, dass der Wandergedanke schon lange nicht mehr leitend für die Arbeit des Werkes ist. Schließlich musste dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das agrar-romantische Ideal des »einfachen Lebens« mit dem Wirtschaftswunder-Wohlstandsbegehren breiter Bevölkerungsschichten immer schwerer in Einlang zu bringen war. War es wirklich der Sache dienlich, dass unerbittliche Herbergsväter ihren Gästen um 22:00 Uhr das Licht abdrehten, wenn außerhalb der zweckdienlich errichteten Herbergsmauern das Zeitalter der Ferienreise-Industrie anbrach?
Heute müssen Klassenfahrer in Jugendherbergsküchen nur noch auf ausdrücklichen Wunsch ihrer Lehrer helfen. Schließlich wolle man die jungen »Kunden« ja nicht durch derlei Dienste von der Ausübung ihres Programms abhalten, sagt der Herbergsvater. Herbergsvater? Dazu fällt dem, der sich aus Tradition so nennt, eher Dienstleister, keinesfalls aber Erzieher ein. Manager auch. Schließlich bewirtschaftet er die Burg heute mit rund 30 Mitarbeitern und nicht, wie früher, mit ein paar Zivis und ein bisschen Reinigungspersonal. Was aber nicht heißt, dass der Chef selbst in den Keller steigen muss, um dem Gast die rot-weiß karierte Bettwäsche mit aufs Zimmer zu geben. Zunehmend sei der Herbergsvater auch ein Wächter des Burgfriedens und müsse die jungen Gäste an den Willkommensgruß am Eingangstor der Burg erinnern: Salus Intrantibus – Heil den Eintretenden. Körperlich verstanden heiße das dann, entschieden gegen die zunehmende Gewaltbereitschaft der Gäste vorzugehen.
»Deutsche Markenbutter« steht auf dem waschkübelgroßen Metallbehälter in der Küche. Dazu gibt es morgens zwei weiche Brötchen, eine Scheibe Käse, Marmelade und eine eisbällchengroße Portion Nussnougatcreme. Im Foyer ist ein kleines Müsli-Buffet aufgebaut, dazu Schälchen mit einem doch sehr begrenzten Fassungsvermögen. Letzteres ist wohl auf die Erfahrung zurückzuführen, dass die Aufnahmekapazität des Magens meistens schneller erschöpft ist als die großer Teller – vor allem bei Jugendlichen. Immerhin lassen sich dank der erzwungenen Kleinstportionierung Wanderbewegungen zwischen dem Foyer und dem Frühstücksraum beobachten. Letzterer heißt »Rittersaal« und hat sich seinen noblen Namen allein schon durch die wuchtig von der Decke hängenden Holz-Kronleuchter verdient. Nur die Fackeln wurden irgendwann mal durch Glühbirnen ersetzt.
In einer Jugendherberge deutlich jüngeren Datums hat der Gast einst gelernt, dass man Hagebutten nicht nur zu Juckpulver verarbeiten kann, das nicht juckt, sondern auch zu Tee, der nicht schmeckt. Gegen roten Tee sei ja grundsätzlich nichts einzuwenden, sagt Bernd Dohm, der DJH Hauptgeschäftsführer. Gegen den zum Frühstück großzügig ausgeschenkten Kaffee hingegen eine ganze Menge. Findet der Gast. Den Nudeln, die man sich mittags als Spaghetti »Napoli« von der Ausgabe abholt, hätten, anders als dem Kaffee, mehr Wasser und eine kürzere Kochzeit gut getan. Doch nichts leichter, als sich über die Verpflegung in Jugendherbergen zu belustigen. Wenn ein Tag Halbpension aber für 26,20 Euro buchbar sein soll, ist wohl kaum mehr möglich.
»Ich wünsche dir Zeit, nach den Sternen zu greifen, und Zeit, um zu wachsen, das heißt, um zu reifen. Ich wünsche dir Zeit, neu zu hoffen, zu lieben. Es hat keinen Sinn, diese Zeit zu verschieben.« Das klingt nach evangelischen Kirchentagen. Zu Papier gebracht hat die Verse Elli Michler. Sie hängen in einem der Burg-Korridore, gedruckt auf Papier, das rote und gelbe Tulpen bekränzen. Spirituelle Folklore, zeitlos-süßlicher Nachhall des jahrhundertwendischen »Du sollst Dein Leben ändern«. Vermutlich ist Michlers Gedicht schon länger an seinem unauffälligen Platz. So wie – nur ein paar Schritte entfernt – das Porträtgemälde Richard Schirrmanns. Doch auf Burg Bilstein hat längst ein anderer Geist Einzug gehalten – und in dieser Juninacht auch »Kunden«, die nach Mitternacht offensichtlich Besseres und Lauteres vor haben, als einfach nur zu schlafen.
Der informative Sammelband zum Jubiläum: Jürgen Reulecke / Barbara Stambolis (Hg.): »100 Jahre Jugendherbergen. Anfänge – Wandlungen – Rückund Ausblicke«, Klartext Verlag, Essen, 2009, 443 Seiten, 19,95 Euro