// Als die »Anti-Anna-Netrebko« wurde sie bezeichnet. Damit ist einiges schon exakt getroffen – und doch viel zu wenig gesagt über diese Sängerin, die in kein Raster passen will, und ihren ungewöhnlichen künstlerischen Weg, den sie beharrlich und mit Eigensinn verfolgt. Christine Schäfer ist so unberechenbar, dass genau das wiederum zum Klischee gerinnen könnte, und so sehr das Gegenteil der handelsüblich klassischen Sopran-Primadonna, die zur Schonung in einen Schal gehüllt erscheint, dass man ihr »Image« für ein besonders raffiniertes Marketing-Kalkül halten könnte. Dabei ist sie sich nur treu geblieben und hat sich seit ihren sängerischen Anfängen eigentlich kaum verändert.
Da war die 1965 in Frankfurt am Main geborene Metzgerstochter, deren Mutter Uschi bei Helmuth Rillings »Gächinger Kantorei« mitsang und die sangesfreudige Tochter in diesen Luxus-chor nachholte, noch auf der Suche nach dem passenden Lehrer und einem dazugehörigen Studienplatz an einer Musikhochschule. Um sich zu orientieren, sang Christine Schäfer wie üblich arrivierten Gesangslehrern vor, um deren Urteil zu vernehmen und den Eintritt in eine der begehrten Gesangsklassen passieren zu dürfen.
Dieses Ritual führte sie damals auch nach Düsseldorf-Oberkassel, in den privaten Salon einer bekannten Gesangspädagogin mit Hochschulweihen. Vorstellen muss man sich die Szene folgendermaßen: die blutjunge Christine in burschikosem Gewand, die kurzen blonden Haare strubbelig, fast punkig frisiert, im Gesicht schon die für sie typische Mischung aus kühler Verschlossenheit und leichtem Trotz; ein bisschen schräg und Gottlob komplett inkompatibel zum gediegenen Ambiente stand sie am Flügel und sang: Bach!
Ungewöhnlich genug, keines der üblichen Vorsingstücke aus der Opernliteratur mit wenigstens ein paar Spitzentönen oder Koloraturschnörkeln zu präsentieren, wählte sie aus des Thomaskantors reichem Œuvre eine stille, in sich gekehrte Arie: »Schlummert ein« aus der Kantate »Ich habe genug«, ein über ruhig pochenden Bässen sanft wiegendes, in endlosen Legatolinien strömendes Schlummerlied mittleren Tonumfangs. Ihr Sopran klang derzeit noch knabenhaft schmal, hell und zerbrechlich, das charakteristische Timbre schimmerte erst vage durch, die Höhe aber versprach bereits silbrige Leichtigkeit.
Keine saftige Naturstimme, die auf baldige Klangwunder schließen ließ, fürwahr. Unüberhörbar aber bereits und neben dem Dickkopf, ein solches Nicht-Glanzstück vorzutragen, bemerkenswert war ihre Fähigkeit, die Stimme sicher zu führen, mit hoher Musikalität zu phrasieren und mit großer Ernsthaftigkeit, gleichwohl ohne nur einen Hauch sängertypisch aufgesetzter Expression zu gestalten. Doch das herbe Äußere, der spürbare Unwille, sich möglichst attraktiv darzustellen, befremdeten die berühmte Pädagogin. Freundlich, aber bestimmt befand sie die Stimme für zu klein und monierte die Ausstrahlung als unweiblich und zu wenig »sängerisch«.
Christine Schäfer steckte das Verdikt gelassen weg, nahm wenig später ihr Studium bei Ingrid Figur an der Berliner Hochschule auf und stürmte alsbald mit Siebenmeilenstiefeln voran, gewann Wettbewerbe und machte als Konzertsängerin Furore. Die Stimme war schnell wundersam gewachsen und hatte die Enge des Knäbischen, nicht aber dessen glockenreinen Reiz abgelegt. Doch immer noch musste sie sich anhören, ihr Sopran sei fürs Opernfach viel zu klein geraten. Auch diese Hürde nahm sie schließlich souverän und straft bis heute die reine Lehre der Fächer Lügen.
Ihr erster Welterfolg wurde – nach Anfängen in Innsbruck und Bern und dem US-Debüt in San Francisco mit der Sophie im »Rosenkavalier« – ausgerechnet Alban Bergs mörderische »Lulu«, an der sich sonst vorwiegend Vertreterinnen des schweren Fachs abarbeiten. Auch an Mozarts Donna Anna, einstmals von der hochdramatischen Birgit Nilsson trompetet, verhob die Schäfer sich keineswegs, obwohl sie strenger Auffassung nach nicht die in der Ehre verletzte Tochter des Komturs, sondern eher Don Giovannis Zerlina hätte sein müssen. Mozarts Cherubino wiederum wird sonst mit satten Mezzosopranen besetzt, der mittellagigen Tessitura wegen und weil’s für eine Hosenrolle doch bittschön immer so zu sein hat.
Dann sogar Verdi! Nicht nur die mädchenhafte, hoch liegende Gilda, sondern auch die Kameliendame Violetta, eine der Schlüsselrollen der Callas. Gerard Mortier war es, der sie bei Mozart und Verdi in Paris gegenbesetzt hat, nachdem er ihr bereits zu Anfang seiner RuhrTriennale – und ebenfalls unkonventionell – den Boxring eröffnete für Schuberts »Winterreise«.
Christine Schäfer besitzt Talent und künstlerische Autorität, Partien gleichsam neu zu erfinden. Das gilt nicht nur für die Opernbühne, auch im Konzertsaal überrascht sie mit Neudeutungen. So setzt ihre »Winterreise« genau dort unsentimental auf Tempo und klirrende Klarheit, wo Generationen von Liedsängern schwitzendes Herzeleid auspressten.
Ihre Stimme, die jetzt im Zenit ihrer Möglichkeiten zu stehen scheint, ist unverwechselbar. Immer noch vernimmt man kein großes, üppig strömendes Organ. Keine Stimme, die bis ins Rückenmark kriecht und ob ihres sinnlichen Zaubers willenlos macht, oder mit metallischer Kraft gebieterisch nach Gehör verlangt. Indes fasziniert sie unmittelbar, spricht Kopf und Herz gleichermaßen an und fesselt dann doch mit keusch schimmerndem Glanz, der unschuldig und wissend zugleich klingt.
Wie kaum eine andere vermag sie es, auf dem Atem zu singen, ihr kostbares Instrument auf der Luftsäule zu balancieren, wie ein Tischtennisball auf einer Wasserfontäne. Mühelos bewegt sie sich so durch alle Lagen und bezwingt trotz ihrer zarten Substanz durch enorme Tragfähigkeit. Sie beherrscht in Perfektion, was Lucia Popp als Grundrezept für ein langes Sängerleben formulierte: »Nicht mit dem Kapital muss man singen, sondern mit den Zinsen!«
Christine Schäfers Technik ist makellos, sie intoniert Vierteltöne bei Pierre Boulez ebenso lupenrein und selbstverständlich, wie sie Verdis hohes Des der Violetta in Christoph Marthalers todtrauriger »La Traviata«-Inszenierung in den Belle-Epoque-Saal des Pariser Palais Garnier schleudert. In Frankreichs Hauptstadt – parallel in Berlin – lebt sie nach dem frühen Tod ihres Lebengefährten Oliver Herrmann 2003 mit den beiden gemeinsamen Kindern.
Schäfers Repertoire irritiert – Beleg für ihre Neugierde und Lust am Ausprobieren. Es reicht von Frühbarockem über das klassische Kern-Repertoire bis zu Schlagern der dreißiger Jahre und sperrigen Avantgarde-Preziosen. Zudem hat sie ein Faible für die Subkultur, geisterte etwa in einer Verfilmung von Schumanns »Dichterliebe« mit Federboa und Zigarette im Mundwinkel durchs Schummerlicht von Berliner Kaschemmen und blickte so unvermittelt direkt dem Zuschauer ins Gesicht, dass man darüber die Manierismen des Films vergaß.
Wo übrigens der Name Netrebko schon fiel, im Mozartjahr glückte Christine Schäfer das Unfassbare. In Klaus Guths letztendlich überschätztem Salzburger »Figaro«, der mit seiner Aussicht auf die russische Susanna die Preise auf dem Schwarzmarkt schwindelnd hoch trieb, stellte sie mit ihrem vor unschuldigem Eros bebenden Cherubino die global angehimmelte Kollegin in den Schatten und wurde als die eigentliche Sensation gefeiert.
Im vorigen Jahr hat Christine Schäfer eine aberwitzig klingende Kombination zusammengestellt und in Eigenproduktion aufgenommen: Lieder von Henry Purcell und dem amerikanischen Zeitgenossen Georg Crumb. Für die CD bekam sie den Preis der Schallplattenkritik 2008, einmal mehr das Mantra der Klassikbranche missachtend, das Erfolg durch Anbiederung an den Massengeschmack leisten zu müssen glaubt. Mit diesem Programm gastiert Christine Schäfer nun am 21. April in der Essener Philharmonie. //